Leidulf Melve: Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030-1122) (= Brill's Studies in Intellectual History; Vol. 154), Leiden / Boston: Brill 2007, XI + 770 S., ISBN 978-90-04-15884-9, EUR 149,00
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Die vorliegende Studie stellt die Frage nach der Formierung von "Öffentlichkeit" in den Auseinandersetzungen zwischen König- und Papsttum, die das spätere 11. Jahrhundert prägten. Ausgangspunkt ist die von Jürgen Habermas in 'Strukturwandel und Öffentlichkeit' behauptete Nichtexistenz einer öffentlichen Sphäre im hohen Mittelalter, dem die bisherige Forschung, wie Melve eingangs erklärt (32-43), mit einem kaum reflektierten theoretischen Instrumentarium nur wenig habe entgegensetzen können. Melves Dissertation greift hingegen die Habermas'sche Konzeption gezielt auf und zeigt, dass sich ein "Strukturwandel der öffentlichen Sphäre" schon im Zeitalter der Kirchenreform beobachten lasse. Dieser Prozess wird in drei Abschnitte eingeteilt, deren erster in die Jahre von 1030-1073 fällt. In diesem Zeitraum treten die Parteiungen noch nicht deutlich hervor, die öffentliche Debatte ist folglich noch kaum institutionalisiert und wird von einer kleinen Elite geführt (121-171). Die Jahre zwischen 1073 und 1099 bringen einen Umschwung: es werden mehr und mehr polemische Schriften verfasst, die es erlauben, die Streitparteien klarer zu differenzieren. Anhänger der königlichen und der päpstlichen Seite stehen sich nun gegenüber, doch gemeinsam ist den Verfassern der Streitschriften ein Eigenbewusstsein als debattierende Intellektuelle. Zudem weitet sich der Kreis der Beteiligten. Immer häufiger werden Schreiben nicht mehr nur an Einzelpersonen, sondern an einen breiten Adressatenkreis gerichtet, wobei die päpstliche und die kaiserliche Kanzlei eine gewisse Vorreiterrolle einnehmen (173-280). Auch die Art der Diskussion wandelt sich im Lauf der Zeit und gewinnt an Komplexität. Dominierten in der Frühphase moralisch-theologische Argumente, so traten bald juristische und historische Begründungsstrategien hinzu, was in ausführlichen Einzelkapiteln zu Petrus Crassus (349-422) und dem 'Liber de unitate ecclesiae conservanda' (423-550) deutlich wird. Diese Vielfalt der Argumente prägt auch die Streitschriften der Spätphase, die in die Jahre 1099-1122 datiert wird (551-602), in denen sich die Debatte weitgehend institutionalisiert hatte. Nun trat die Bedeutung der Kanzleien wieder in den Hintergrund, während die gelehrte Diskussion in Polemiken mit "nicht-offiziellem" Charakter an Gewicht gewann.
Jeder Abschnitt des Konflikts wird mit spezifischen Formen oraler und auditiver Kommunikation in Verbindung gebracht. So weist Melve auf die Bedeutung von mündlich verbreiteten Gerüchten hin, die bereits in der ersten Phase eine wichtige Rolle spielten (64-67). In der zweiten Eskalationsstufe finden sich noch deutlich häufiger Verweise auf Wege oraler Vermittlung, die breitere, auch illiterate Kreise mit einbeziehen. Mit durchaus plausiblen Argumenten wendet sich Melve gegen die Annahme, derartige Hinweise in der Streitschriftenliteratur seien lediglich rhetorische Topoi, welche das Ausmaß der Streitigkeiten illustrieren sollten (77-88). Zu überlegen wäre allerdings, ob die Bitte ("parcant ergo mihi auditores mei"), die Wido von Ferrara im Vorwort des zweiten Buches von 'De scismate Hildebrandi' äußert, sich nicht im Sinne einer captatio benevolentiae auf "Richter" (mittellateinisch "auditor") über sein Werk bezieht, nicht auf Personen, die dieses auditiv wahrnehmen. Auf jeden Fall als captatio bzw. als Versicherung der Aufrichtigkeit ist die Wendung "faciem cordis mei nullatenus abscondo tibi patri in simplicitate sermonis" in einem Brief des Kardinals Hugo Candidus intendiert. "Simplicitas sermonis" bezeichnet hier topisch die Einfachheit der Sprache und hat nichts mit einer einfach strukturierten Predigt zu tun ("simple sermon", 95). Auch die Analyse der Polemiken aus der letzten Etappe des Konflikts müsste stärker die entsprechende Topik berücksichtigen. In der Widmung seines 'Tractatus' an König Heinrich I. von England beteuert Hugo von Fleury nämlich, dass er keineswegs beabsichtige, die hoch gebildeten Personen in dessen Umfeld belehren zu wollen. Zudem bringt er - typisch für eine captatio benevolentiae - seine Befürchtungen zum Ausdruck, dass seine Gegner das Werk nicht nur verachten würden, weil es ihren Ansichten zuwiderlaufe, sondern auch wegen der ungeschliffenen Ausdrucksweise ("sermo rusticus"). Melve zieht diese Passage merkwürdigerweise als Beleg dafür heran, dass das gelehrte Publikum dieser lateinischen Polemik als Vermittler für weitere Adressatenkreise fungiert habe, die in einer volkssprachlichen Predigt angesprochen werden sollten (102f.). Das Hauptmissverständnis liegt hier wohl in der Übersetzung von "sermo rusticus" (ungeschliffene Ausdrucksweise) mit "sermon in the mother tongue" (volkssprachliche Predigt). Die Frage nach der oralen Vermittlung der gelehrten Argumente an einen breiteren Adressatenkreis in der Spätphase der Auseinandersetzungen wird aufgrund derartiger Missverständnisse nur unzureichend beantwortet, da auch die übrigen Streitschriften keine direkte Auskunft liefern (104-109). Möglicherweise wäre die Heranziehung weiterer Quellengattungen (Predigten, Hagiografie, Synodalakten) in diesem Zusammenhang hilfreich gewesen.
Bleibt die Analyse der oralen Kommunikationswege auch mit deutlichen Schwächen behaftet, so überzeugt doch die Argumentation insgesamt. Melve konzediert zwar, dass erst das Aufkommen des Buchdrucks im 15. Jahrhundert die Entstehung von "Öffentlichkeit" im modernen Sinne ermöglicht habe, doch unter den Bedingungen des hohen Mittelalters habe sich mit den geschilderten Debatten eine spezifisch vormoderne Form von öffentlicher Sphäre ausgebildet, an der vor allem ein kleiner Kreis gelehrter Kleriker, die über Kenntnisse der lateinischen Sprache und Zugang zu Handschriften verfügten, partizipierte. Ein Strukturmodell von öffentlicher Sphäre entwickelt zu haben, das die Annahmen von Habermas widerlegt und die mittelalterlichen Verhältnisse angemessen berücksichtigt, ist das Verdienst dieses zweibändigen Werks.
Georg Strack