Geert Mak: Die Brücke von Istanbul. Eine Reise zwischen Orient und Okzident. Aus d. Niederländischen v. Andreas Ecke, 2. Aufl., New York: Pantheon Books 2007, 128 S., ISBN 978-3-570-55040-3, EUR 9,95
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Der niederländische Schriftsteller und Essayist Geert Mak (geb. 1946) möchte in seinem hier zur Besprechung anstehenden Buch nicht ein weiteres Mal die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft betonen. Vielmehr geht es ihm als Intellektuellem darum, sich, wie es so schön heißt, mitten ins Istanbuler Leben zu stürzen, um von den ausgegrenzten Menschen der Gesellschaft zu lernen. Dafür sucht er sich den wohl geeignetsten Platz: Die Galata-Brücke in Istanbul. Auf dieser kleinen Brücke können einem aufmerksamen Beobachter in der Tat die Zustände in dem Land deutlich werden, vorausgesetzt, er ist offen für die Meinung aller Schichten. Es geht eben nicht nur um Universitätsprofessoren, Diplomaten und hohe Beamte, sondern um Schuhputzer, Taschendiebe, Nachtschwärmer, Barbesitzer, Prostituierte, Flüchtlinge und Zuhälter. Geert Mak ist unvoreingenommen, lernbegierig und ein guter Zuhörer. Das zeichnet seine Studie aus.
Immer wieder teilt er dem Leser seinen Lernprozess mit, was ihn von so vielen Autoren, die den Nahen Osten mit einem vorgefertigten Bild bereisen und über ihn berichten, angenehm unterscheidet. Als der Autor und sein Übersetzer Mehmet Onun beispielsweise über Presse-und Meinungsfreiheit diskutieren und es zwangsläufig zum sog. 'Karikaturenstreit' kommt, schließt Mak seine Darstellung ihrer Unterhaltung nachdenklich mit den Worten ab: "Allmählich begann ich zu ahnen, dass hinter diesem Karikaturenstreit etwas anderes stecken könnte, als ich zunächst gedacht hatte; das galt zumindest für die Menschen auf der Brücke. Im Grunde war es kein religiöser Konflikt. In all den Wochen habe ich nicht ein böses Wort über Christen und andere Nichtmuslime zu hören bekommen, was natürlich auch einfach durch Höflichkeit zu erklären sein könnte, aber ich glaube das nicht. Hier ging es nämlich gar nicht um verletzte religiöse Gefühle, wie wir sie im Westen kennen. Hier ging es vor allem um verletzten Stolz. Und wer so arm wie eine Kirchenmaus ist, für den gehören Stolz und Ehre zu den letzten Kostbarkeiten, an die er sein Herz hängen kann." (88) Und arm wie eine Kirchenmaus sind sie fast alle, die in Maks Büchlein zu Wort kommen. Ali Özbaǧrıaçık, der 'Sohlenmann', die Zigarettenjungen, die Losverkäuferin, der blinde Flötenspieler, der nur eine Sonnenbrille trägt und in der Mittagspause seine Zeitung liest, und viele andere; sie sind die Protagonisten von Maks erzählendem Bericht.
"Can the Subaltern speak"? Mak lässt sie sprechen und ohne viel zu theoretisieren bringen er und sein Dolmetscher dem Leser einen Teil der Türkei näher, den das aufstrebende Land am liebsten vertuschen würde. So ist das Problem der wachsenden Landflucht und zunehmenden Urbanisierung nicht mehr nur eine Statistik in einer Fußnote, sondern es erhält ein Gesicht, wenn Mak abends mit dem Teebrüher der Brücke und dem Parfümverkäufer nach zwölf Stunden Arbeit über deren Schicksal spricht. Das Heimatdorf des Teebrühers liegt an der iranischen Grenze. Seine Familie ist dort geblieben; er wohnt schon seit Jahren nicht mehr zu Hause, alle drei Monate reißt er zu Frau und Kindern. Vierundzwanzig Stunden hin, vierundzwanzig Stunden zurück."Für sie arbeite ich hier, nur für sie. Wenn du in mein Dorf kämest, würdest du Augen machen. Wir sind doch Menschen wie andere auch, aber du würdest kaum glauben, wie die Menschen dort leben müssen. Wir haben alle gehungert, und wie." Er zeigt auf die Männer ringsum: "Die Jungs hier; die stammen alle aus dem Landesinneren, aus der Südosttürkei. Da gibt es für unsereins einfach gar keine Möglichkeiten. Außer man geht in die Berge zu den Terroristen. Wenn man das nicht will, hat man keine andere Wahl, als hierhin zu kommen und das Beste aus seiner Lage zu machen, dann verkauft man eben Tee oder handelt mit kopierten CD's und gestohlenen Handys oder dreht euch gepantschtes Parfüm an... Ja, nimm dich in acht vor dem Mist, davon kann man blind werden. Glaubst du, wir tun das alle zu unserem Vergnügen?" (35)
Immer mehr lebt sich Mak in das Leben auf der Brücke ein, erkennt die Rang- und Standesunterschiede, die hier herrschen: "Da ist die Hierarchie des Mobiltelefons: Wer kann sich ein Handy leisten und wer nicht? Das Handy vergrößert das Handelsnetz seines Besitzers um ein Vielfaches und damit die Aussicht auf Extraverdientes und vielleicht - wer weiß - den großen Glückstreffer. Viele der Zigarettenjungen haben eins, auch der Fotograf, die Losverkäuferin, der Parfümhändler und der Buchhändler." (77) Ali, der Sohlenverkäufer, kann von einem Handy nur Träumen. "Ich arbeite immer, auch am Wochenende. Wenn ich einen Tag freimache, nehme ich nicht so viel ein, wie ich zum Überleben brauche." (30) Und krank war er noch nie; oder besser gesagt, er war noch nie beim Arzt. In der Welt der Brücke ist Kranksein ein Ding der Unmöglichkeit und Krankenhäuser kommen darin erst recht nicht vor. Körperliche Gebrechen bedeuten finanziell gesehen doppeltes Unglück: Zu den Kosten für Arzt und Medikamente kommt der Umsatzverlust. Alle Beschwerden, von faulendem Zahnfleisch bis hin zu Sodbrennen, werden deshalb mit Antibiotika bekämpft. Ali ist das typische Globalisierungsopfer: "Ich habe keine Zukunft. Das ist das Einzige, woran ich nachts denken kann. Einundzwanzig Jahre lang habe ich einen festen Arbeitsplatz gehabt, wenn ich noch für drei Jahre eine feste Stelle finden könnte, hätte ich Anspruch auf Rente. Aber wer nimmt einen Fünfundfünzigjährigen"? (31) Und neben dieser Perspektivlosigkeit kommt die ewige Ungewissheit. Stabilität kennt man hier nicht, selbst die allerkleinsten Schwankungen im Wirtschaftsleben der Stadt wirken sich sofort auf die Ökonomie der Brücke aus.
Etwas holprig wirkt im Text der Übergang zu den Schicksalen der Frauen (103-111), die in der Brückenökonomie die Rolle von Exotinnen einnehmen. Auch hier beweist Mak sein Einfühlungsvermögen. Alle Interviewten scheinen sich davon befreien zu wollen, vom Westen als unmündige Geschöpfe betrachtet zu werden, denen man das Licht westlicher Aufklärung mit allen Mitteln nahe bringen müsse, damit es endlich zur symbolischen Ablegung des Schleiers komme. Altersdiskriminierung und Armut kennen keine nationalen Grenzen; das merkt der Leser spätestens, wenn er Maks ständige Begleiterin kennenlernt. Alleinerziehend, gestresst, völlig überarbeitet, unterbezahlt und müde stellt sie sich als Krankenschwester eines großen Istanbuler Krankenhauses vor und führt Mak durch ihr Istanbul. Sie sprechen über die von den Konservativen geforderten Kopftuchzwang für Studentinnen. "Ökonomische Unabhängigkeit ist für unser Leben das Allerwichtigste. Und dazu gehört eine gute Ausbildung. Was nützt es, wenn man immer nur wieder versucht, Frauen ihre Situation bewusst zu machen. Die meisten Frauen, ob Muslimin oder nicht, wissen doch selbst sehr gut, in welcher Lage sie sind. Natürlich ist das wichtig, aber was soll eine Frau ohne Geld machen? Frauen mit eigenem Einkommen haben gut reden, die brauchen sich dem Druck nicht zu beugen. Aber alle anderen sind Sklavinnen, sonst nichts." (108)
Geert Maks Buch ist auch Islamwissenschaftler/inne/n unbedingt zu empfehlen. Seine historischen Analysen über Aufstieg und Niedergang des Osmanischen Reiches sind ausgezeichnet, immer wieder betont er den Reformwillen der Regierung in Istanbul und die sich abwechselnden Perioden zwischen Modernisierung und Traditionalisierung. Mak zieht europäische Reisende der Renaissance heran, Beat-Poeten des Istanbuler Untergrunds und neueste Abhandlungen wie beispielsweise die Ergebnisse des Gallup World Pol, einer breit angelegten Umfrage unter Frauen mit achttausend Interviews in acht muslimischen Ländern.
Istanbul wird sich dieses Jahr als Kulturhauptstadt Europas präsentieren; und wie in diesem Zusammenhang mit Maks Protagonisten umgegangen wird, mag der Leser nach der Lektüre nur traurig erahnen.
Maks Buch, eventuell zusammen mit Klaus Kreisers gerade neu erschienen historischem Stadtführer, ist die perfekte Lektüre für einen Aufenthalt in dieser faszinierenden Stadt. [1]
Anmerkung:
[1] Klaus Kreiser: Istanbul. Ein historischer Reiseführer, München 2009.
Tilmann Kulke