Gerhard Höpp / Peter Wien / René Wildangel (Hgg.): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus (= Studien des Zentrums Moderner Orient; Bd. 19), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2004, 377 S., ISBN 978-3-87997-625-6, EUR 26,00
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Der vorliegende Sammelband geht auf eine 2002 am Zentrum Moderner Orient in Berlin veranstaltete Konferenz zurück, welche sich mit der Rezeption des Nationalsozialismus sowie mit israelischen und palästinensischen Erinnerungskulturen beschäftigte. Die Autoren der Beiträge knüpfen an den Workshop an und arbeiten die Kollaboration mit bzw. die Beziehungen zum Nationalsozialismus historisch auf, fangen wichtige Diskurse über das NS-Regime ein und zeigen Ursachen und Mechanismen der Instrumentalisierung des Holocausts im Kontext des Nahostkonflikts. Sie leisten damit einen wertvollen Beitrag zur Untersuchung der Erinnerungs- und Geschichtspolitik und bereichern den Stand der Forschung über die Beziehung der arabischen und islamischen Welt und dem Nationalsozialismus.
Die große Stärke der Beiträge liegt darin, die nötige historische Kontextualisierung der arabischen Begegnung mit dem Nationalsozialismus zu leisten. Damit bieten sie eine sehr differenzierte Analyse und lassen zuvor nicht gehörte - kritische - Stimmen zum Nationalsozialismus zu Wort kommen. In aktuellen Debatten und leider auch in einigen tendenziösen Geschichtsschreibungen überlagert der Nahostkonflikt die Aufarbeitung und Darstellung des Verhältnisses zwischen der arabischen Welt und dem Nationalsozialismus. Die Beiträge lösen dieses Dilemma, indem sie den Nahostkonflikt bewusst in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellen und dadurch die Geschichts- und Erinnerungspolitik ausgewählter arabischer Länder untersuchen.
Jamaâ Baida behandelt in seinem Beitrag Das Bild des Nationalsozialismus in der Presse Marokkos, wie die marokkanischen Printmedien durch Frankreich und Deutschland in der Zwischenkriegszeit für ihre jeweilige Propaganda instrumentalisiert wurde. Baida kann zwar eine gewisse Begeisterung für das (Nazi-)Deutschland unter der marokkanischen Bevölkerung ausmachen. Diese entsprang allerdings nicht einem Interesse an der nationalsozialistischen Rassentheorie, sondern war vielmehr eine Gegenreaktion auf den Kolonialherren Frankreich und daher schon vor dem ersten Weltkrieg präsent. Driss Maghraouis sorgfältige Analyse der Französischen Anti-Nazi-Propaganda während des zweiten Weltkriegs ist eine hervorragende Ergänzung zu diesem Beitrag. Sie zeigt, "wie der französische Propagandadiskurs in einem universalen Sprachgebrauch konstruiert wurde", der das Ziel hatte, die Rassenlogik der kolonialen Ära kurzzeitig aufzuheben, um die Marokkaner zum Kampf gegen Deutschland zu bewegen. Auf diese Weise machte man sie zu beinahe gleichwertigen Mitgliedern einer erweiterten französischen Familie. Dass diese Propaganda zum Teil erfolgreich war und Marokkaner für Frankreich kämpften, verdeutlichen dann die Texte von Moshe Gershovich (Scherifenstern und Hakenkreuz. Marokkanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg) und Gerhard Höpp (Der verdrängte Diskurs. Arabische Opfer des Nationalsozialismus). Höpps Artikel macht darüber hinaus klar, dass zahlreiche Araber entweder als arabische Migranten in Deutschland und Österreich - als sogenannte "Marokkaner-Mischlinge" oder als arabische und nordafrikanische Soldaten - dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen.
Über die Presse Ägyptens erfährt man etwas in den Beiträgen von Israel Gershonis (Der verfolgte Jude. Al-Hilals Reaktion auf den Antisemitismus in Europa und Hitlers Machtergreifung) und von Götz Nordbruch (Geschichte im Konflikt. Der Nationalsozialismus als Thema aktueller Debatten in der ägyptischen Öffentlichkeit). Dabei analysiert Gershoni die Position der Zeitung al-Hilal in der Zwischenkriegszeit. Das Organ setzte sich in seinen Artikeln für Modernität, Liberalismus und eine Zivilgesellschaft ein und sprach sich offen gegen die Judenverfolgung in Deutschland aus. Nordbruch untersucht, wie in den ägyptischen Medien in der Gegenwart mit dem Nationalsozialismus umgegangen wird. Das Ergebnis ist ernüchternd. Vor dem Hintergrund aktueller Themen wird der Holocaust teils ganz geleugnet, teils als eine zionistische Instrumentalisierung der Geschichte bezeichnet. Offensichtlich lassen sich die ägyptischen Autoren von einem Antizionismus unreflektiert zu einem Antisemitismus verleiten.
Dass es wichtig ist, hier sehr scharf zu trennen, zeigt der Beitrag von René Wildangels Der größte Feind der Menschheit. Der Nationalsozialismus in der arabischen öffentlichen Meinung in Palästina während des Zweiten Weltkrieges. Der Verfasser kann zeigen, dass die öffentliche Meinung in Palästina eine kritische Stellung zum Nationalsozialismus und vor allem zur Rassentheorie einnahm. Der Artikel liefert damit wichtige Erkenntnisse zum Verständnis des Verhältnisses der arabischen Welt zum Nationalsozialismus. Für die Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Staates Israels und der palästinensischen Autonomiegebiete könnten diese Erkenntnisse hilfreich sein. Jedoch sind beide Parteien des Nahostkonflikts zu stark von der Erinnerung an die Shoa auf der einen und an die Nakba auf der anderen Seite geprägt. Diese Vorstellungen sind über die Jahre hinweg zementiert worden. Karin Joggerst führt uns in ihrem Beitrag Vergegenwärtigte Vergangenheit(en). Die Rezeption der Shoa und Nakba im israelisch-palästinensischen Konflikt vor Augen, dass die Memorialkulturen beider Parteien eine kaum zu überwindende Hürde für einen wirklichen Frieden bilden.
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurden in der arabischen Welt die zahlreichen europäischen Ideologien von einer gut ausgebildeten jungen Generation aufgenommen, welche sich erhoffte, sie für die Errichtung eines Nationalstaates und das Erreichen der nationalen Unabhängigkeit nutzen zu können. Wie dies im Einzelfall vonstattenging und welche Rolle der deutsche Nationalsozialismus mit seiner Rassentheorie und seinem Antisemitismus spielte, behandeln die Beiträge von Peter Wien (Neue Generation und Führersehnsucht. Generationenkonflikt und totalitäre Tendenzen im Irak der dreißiger Jahre) und Christoph Schumann (Symbolische Aneignungen. Anṭūn Saʿādas Radikalnationalismus in der Epoche des Faschismus). Während Wien die "Jungen Effendiyya" im Irak der 1930er Jahre untersucht, welche in dem deutschen Führerideal das Potential sah, die alte politische Garde abzulösen und damit die nationale Unabhängigkeit von England zu erreichen, legt Schumann seinen Fokus auf Anṭūn Saʿādas und dessen Syrisch-Sozial-Nationalistische Partei. In beiden Beiträgen wird deutlich, dass die vermeintliche Nähe zum Nationalsozialismus zwar der nationalen Einheit diente, die syrischen und irakischen Akteure jedoch an der Rassentheorie und dem Antisemitismus kein Interesse zeigten und diese nicht übernahmen.
Alle Beiträge des Sammelbandes sind gut ausgearbeitet und stützen sich auf eine sorgfältige Analyse von zuvor unberücksichtigten Quellen. Ihre Ergebnisse zeigen nicht nur, wie komplex die Interaktionen zwischen dem Nationalsozialismus und der arabischen Welt ist, sondern sie bieten auch eine ausgezeichnete Grundlage für weitere Studien zu diesem wichtigen Thema.
Mohammad Gharaibeh