Peter Wien: Iraqui Arab Nationalism. Authoritarian, Totalitarian, and Pro-Fascist Inclinations, 1932-1941 (= Routledge Studies on the Middle East; Vol. 4), London / New York: Routledge 2006, x + 162 S., ISBN 978-0-415-36858-2, GBP 65,00
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Gerhard Höpp / Peter Wien / René Wildangel (Hgg.): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2004
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Der Staatsstreich einer pro-deutschen Gruppe unter Führung Rašīd ʿAlī al-Kaylānīs im April 1941 und die daraufhin erfolgte Beteiligung deutscher und italienischer Flieger im Krieg gegen Großbritannien sind in der westlichen Sekundärliteratur häufig als Kulminationspunkte einer in den 1930er-Jahren weit verbreiteten irakischen nationalsozialistischen Gesinnung gewertet worden. Träger dieser Strömung seien, so die Meinung dieser Forschungsrichtung, in erster Linie diejenigen arabisch-osmanischen Offiziere gewesen, die vor dem Ersten Weltkrieg eine Ausbildung nach deutschem Vorbild in Istanbul erhalten hatten ("Scherifenoffiziere") und nach der Thronbesteigung König Fayṣals im Jahr 1921 die irakische Elite bildeten.
In der hier vorgelegten Monographie, die aus einer Bonner Dissertation hervorgeht, argumentiert Peter Wien, der hauptsächlich irakische Memoiren und Zeitungen aus jener Zeit ausgewertet hat, recht überzeugend, dass diese These einer in der Öffentlichkeit gängigen Sympathie für die europäischen faschistischen und nationalsozialistischen Ideologien nicht haltbar ist. Vielmehr müsse man die als Beweis angeführten Äußerungen irakischer Intellektueller und Verantwortlicher im Rahmen des irakisch-arabischen nationalistischen Diskurses der 1930er- und 1940er-Jahre sehen. Dieser Diskurs bot nämlich ein breites Meinungsspektrum, das von begeisterter Zustimmung zu bis zur scharfen Ablehnung von autoritären, totalitären und faschistischen Tendenzen ging. Hauptthema der Nationalisten war dabei nicht die geistige Auseinandersetzung mit den westlichen Konzepten, sondern das Ausloten der Möglichkeiten, das nationale "Erwachen" (nahḍa) des eigenen Volkes voranzutreiben. Dabei spielten ganz allgemein Ideen wie die Disziplinierung und straffe Organisierung der Jugend eine zentrale Rolle. Zur Stärkung der irakischen Nation, deren dringlichste Aufgabe natürlich die vollkommene Befreiung von der Kolonialherrschaft sein musste, bildete man männerbündische Gruppen, deren Mitglieder Sekundärtugenden wie Selbstaufgabe, Unterordnung oder Hingabe erlernen sollten. Gleichzeitig regten sich Forderungen nach einer starken Führerpersönlichkeit und einem straff geführten Staatsapparat.
All diese Vorstellungen, so der Verfasser, hatten jedoch nicht immer ihre Vorbilder in Deutschland und Italien, sondern kursierten als Zeitgeistphänomene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genauso in den türkischen, japanischen oder iranischen Gesellschaften. So wählten die irakischen Verfasser entsprechender Schriften oder Artikel in vielen Fällen auch Beispiele aus der islamischen Geschichte (etwa Muḥammad als charismatischer Führer oder der Prophet und seine Genossen als Männerbund) oder beschrieben die Entwicklungen in den beiden Nachbarländern. Darüberhinaus lässt sich das positive Deutschlandbild der Scherifenoffiziere auf eine Bewunderung des preußischen Militärs zurückführen und kann nicht als offene Sympathiebekundung für das NS-Regime ausgelegt werden. Hinzu kommt ganz generell das Fehlen jeglicher rassentheoretischer Untertöne.
Peter Wien gelingt es im weiteren Verlauf seiner Arbeit aufzuzeigen, dass die spürbare Radikalisierung der irakischen Gesellschaft eine in der arabischen Welt allgemein sehr verbreitete Erscheinung gewesen ist - man denke nur an Ägypten! Verstärkend war im Irak der Konflikt zwischen der Generation der Scherifenoffiziere und den engagierten Angehörigen der in den 1920er-Jahren entstandenen neuen Mittelschicht ("Young Effen-diyya") hinzugekommen. Die Kluft zwischen den Generationen wurde im Laufe der Zeit zunehmend größer, und während der von Rašīd ʿAlī al-Kaylānī geführten Bewegung verlor das alte Establishment vollends die Kontrolle über die aufstrebende Jugend. Ein Ergebnis dieser Entfremdung waren dann die Gewaltausbrüche während des Krieges im Mai 1941, die letztlich in das schreckliche Pogrom (Farhūd) in Bagdad mündeten, bei dem eine aufgebrachte Menge plündernd, mordend und vergewaltigend durch das jüdische Stadtviertel zog.
Auch wenn Peter Wien seine These von der Nichtexistenz nationalsozialistischen Gedankengutes im Irak der 1930er-Jahre an einigen Stellen etwas zu sehr zuspitzt und die ablehnenden Aussagen in dem ihm vorliegenden Material vielleicht ein wenig zu sehr herausstellt, so ist die Studie insgesamt doch sehr gut aufgebaut und recherchiert. Darüber hinaus sind seine Schlussfolgerungen doch so plausibel, dass die bisherige gängige Forschungsmeinung zumindest modifiziert werden muss.
Anmerkung der Redaktion:
Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php
Stephan Conermann