Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer, München: Siedler 2010, 335 S., ISBN 978-3-88680-933-2, EUR 22,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Umar Ryad: Islamic Reformism and Christianity. A Critical Reading of the Works of Muḥammad Rashīd Riḍā and His Associates (1898-1935), Leiden / Boston: Brill 2009
Éric Vallet: L'Arabie marchande. État et commerce sous les sultans Rasūlides du Yémen (626-858/1229-1454), Paris: Publications de la Sorbonne 2010
Hakan Rydving (ed.): Al-Ṭabarī's History. Interpretations and Challenges, Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis 2007
Rafis Abazov: Culture and Customs of the Central Asian Republics, Westport, CT / London: Greenwood Press 2007
Das Buch umfasst zwei Teile, der erste dreht sich um das "Wechselspiel von Religion und Kultur", der zweite um "Die Globalisierung und das Religiöse". Es geht Roy um das Verhältnis von Religion und Kultur in der Gegenwart. Was wird aus der Religion, wenn sie einer allgegenwärtigen Säkularisierung ausgesetzt wird? Roy meint: "Die Säkularisierung hat das Religiöse nicht ausgelöscht. Sie hat das Religiöse aus unserer kulturellen Umwelt herausgelöst und lässt es dadurch gerade als rein Religiöses in Erscheinung treten." (20) Roy tritt in seinem Buch vehement der Aussage entgegen, dass es eine wie auch immer geartete Rückkehr der Religion gäbe, ganz zu schweigen von einem mehr als nur durch die Demographie verursachten Wachstum der Anzahl muslimischer Gläubiger in Europa. Oliver Roy zeigt zudem, dass jeder Versuch der Kleriker (welcher Religion auch immer), eine Rückkehr zur ursprünglichen Religion zu initiieren, a priori zum Scheitern verurteilt ist. Denn das, was wir heute als die "alte" Religiosität verstünden, also der Zustand, von dem wir annehmen, dass er zu Zeiten unsere Urgroßeltern einmal vorherrschte, sei eben nicht unter dem Aspekt der Religiosität zu verstehen, sondern unter dem der lokalen Kultur. Genau diese Kultur aber ginge im Modernisierungsprozess unwiederbringlich verloren, und somit auch jede Hoffnung des Kirchenestablishments jeglicher Couleur, ihre jeweiligen Schäflein wieder einzufangen.
William B. Quandt schrieb über Roys 1994 erschienenes Buch The Failure of Political Islam (englische Übersetzung von L'Échec de l'Islam politique, Paris 1992.): "If you read only one book on political Islam, this should be it. Olivier Roy, an authority on the complex politics of Afghanistan, has turned his attention to the phenomenon of Islamic radicalism, with remarkable results. On practically every page one finds an interpretation or observation that is provocative and insightful."[1] Leider kann man das Gleiche keinesfalls über das 2010 erschienene Werk Heilige Einfalt sagen. Beim Lesen entsteht in etwa der Eindruck, den Rembrandt bei seinem 1662 gemalten Werk Porträt der Vorsteher der Tuchmacherzunft (De Staalmeesters) schaffen wollte. Dieses großartige Bild zeigt eine Gruppe von Männern, die, in ein Gespräch vertieft, aufblicken, als eine Person (der Betrachter) den Raum betritt. Man fühlt sich etwas beklommen, da man die Vorsteher bei ihrer Arbeit zu stören glaubt. Jeder höfliche Mensch verlässt daher nach kurzer Zeit diesen Raum wieder. In etwa so läuft das Lesen von Olivier Roys neuem Buch: man steigt an irgendeiner Stelle in einer Unterhaltung von Olivier Roy und anderen ein und verlässt den Raum (hier das Buch), bevor man viel erfahren hat.
Auf 298 Seiten Text schreibt Roy seine Gedanken zum Thema Kultur und Religion nieder. Es mag nach Erbsenzählerei klingen, aber das Problem ist, dass man schlicht und einfach nicht weiß, warum Roy dieses Buch geschrieben hat. Es fehlen am Anfang Fragestellungen, Thesen oder Ähnliches. Wo kein Argument ist, da kann der Autor dem Leser auch nicht darlegen, wie seine Argumentation aufgebaut ist. Das Ergebnis ist, dass der Leser von einer kleinen spannenden Erkenntnis zur nächsten geführt wird, aber keine Struktur erkennen kann. Auf Seite 36 erklärt Roy, dass Konvertiten im Mittelpunkt der Untersuchung stünden, da diese das Prinzip der Dekulturation des Religiösen am reinsten verkörperten. Es ist bedauerlich, dass nun auf den restlichen 270 Seiten aber keine Untersuchung folgt. Es gibt auch keine Primärquellen: das Buch besteht aus geistreich sortierten Aussagen aus der Sekundärliteratur, ohne dass dieser eine neue Interpretation hinzugefügt wird.
Nun ist es nicht jedermanns Anliegen, ein Buch stets dezidiert wissenschaftlich zu gestalten. Aber selbst in einem freieren Essay sollten Begriffe geklärt werden. Dies unterlässt Roy aber in extrem störender Art und Weise. Exkulturation, Inkulturation, Akkulturation, Formatierung und so weiter sind schöne Begriffe. Aber da sie nicht geklärt werden, sondern sich nur halbwegs aus dem Zusammenhang erschließen lassen, bleiben sie im Ungenauen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Aussagen, die nach der Lektüre des Buches beim Leser hängen bleiben, doch eher dem Alltagsverständnis halbwegs kritischer Zeitgenossen entsprechen.
Ein Beispiel: Es gibt keine Wiederkehr der Religion, so Roy, sondern das, was wir heute erleben, sei eine individualisierte Form der puren, also von ihrer "Trägerkultur" abgelösten Religion. Je übertragbarer das "Produkt" Religion sei, desto leichter könne es eine Nachfrage in anderen Regionen erzeugen und dort konsumiert bzw. "geglaubt" werden. Denn es geht ja um Religionen. Das Problem der Übertragbarkeit von Produkten (Soft Drinks genauso wie Bücher oder Religionen) beschäftigt akademische Disziplinen von der Literaturwissenschaft bis zur BWL. Das alles ist also nichts Neues, genauso wenig wie die Erkenntnis, dass ein Produkt, das in einer anderen Kultur konsumiert wird, wenig mit dem Ausgangsprodukt zu tun hat. Ein zusätzliches Ärgernis ist, dass derart banale Beobachtungen nur anhand von interessanten, aber abstrusen Ausnahmen belegt werden. So erfahren wir von zigtausend Bekehrungen von Muslimen in Mittelasien zum Christentum (19). Aber ist das relevant bei ca. 45 Mio. Einwohnern dieser Region? Man mag es Roy glauben, aber er bleibt immer im Ungefähren.
Die Thesen, so Roy sie trifft, wären spannend für einen Aufsatz gewesen. Aber für ein ganzes Buch reicht es nicht. Wenn man davon ausgeht, dass das Buch 300 Seiten hat und ein Leser pro Seite zwei Minuten braucht, benötigt man insgesamt zehn Stunden reine Lesezeit. Das entspricht einem ganzen Wochenende, und das sollte man besser anders verbringen als mit der Lektüre dieses Buches.
Anmerkung:
[1] Quandts Rezension ist zu finden in: Foreign Affairs, Jg. 73, Nr. 6 (November-Dezember 1994).
Roland Kulke