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Jens Heibach: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
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Islamische Welten

Einführung

Von Jens Heibach

Die neue Ausgabe des FORUMs Islamische Welten umfasst diesmal acht Besprechungen von Neuveröffentlichungen, die mehrheitlich eine politikwissenschaftliche Herangehensweise an die arabische Welt an den Tag legen. Fast zwangsläufig beschäftigen sich die meisten Rezensenten zumindest indirekt mit den seit nunmehr über einem Jahr andauernden Umbrüchen in Nordafrika und Nahost, obwohl nur eines der hier besprochenen Bücher den "Arabischen Frühling" direkt thematisiert. Sicherlich die erste Erscheinung zum Thema auf dem deutschen Markt war der von Frank Nordhausen und Thomas Schmid herausgegebene Sammelband Die arabische Revolution. Demokratischer Aufbruch von Tunesien bis zum Golf (Berlin 2010). Verantwortlich für die atemberaubend schnelle Veröffentlichung des Bandes - die Buchpremiere fand bereits am 28. Juni des vergangenen Jahres in Berlin statt - zeichnen mit Nordhausen und Schmid zwei Journalisten der Berliner Zeitung, wie auch, von zwei Ausnahmen abgesehen, alle Beiträge von Journalisten verfasst und entsprechend journalistisch gehalten sind. Dass es sich bei Die arabische Revolution dennoch nicht um einen Schnellschuss handelt und das Buch auch über das Jahr 2011 hinaus lesbar bleibt, mag daran liegen, dass trotz aller Euphorie die nach wie vor schwerwiegenden politischen, ökonomischen und sozialen Probleme in den betroffenen Ländern nicht ausgeblendet werden (Kulke über Nordhausen & Schmid). Damit die These des die gesamte Region übergreifenden "demokratischen Aufbruchs" tatsächlich erhärtet werden kann, müssen aber sicher noch weitere Jahre ins Land streichen.

Nur wenige werden anzweifeln, dass es sich bei den aktuellen Vorgängen in der Region um einen historischen Einschnitt handelt. Ob sich das Jahr 2011 für nachfolgende Historiker jedoch als Datum epochaler Grenzziehung in der Geschichte der arabischen Welt qualifiziert, ist eine gleichsam verfrühte wie hypothetische Frage - die, wie bei solchen Anläufen üblich, zu ihrer Zeit gewiss kontrovers diskutiert werden wird. Bernard Lewis, der ebenso streitbare wie umstrittene "Doyen der westlichen Islamwissenschaft", hat nun mit The End of Modern History in the Middle East (Stanford 2011) einen solchen Versuch der Epocheneinteilung unternommen. Die Ereignisse des letzten Jahres spielen hierbei allerdings keine Rolle. Lewis lässt die "Moderne Geschichte" der Region vielmehr wie Francis Fukuyama mit dem Jahr 1990 auslaufen und begründet dies mit dem vermeintlichen Ende der regionalen Penetration durch externe Mächte. Warum diese Argumentation nicht nur befremdlich (eine der zahlreichen widersprechenden Analysen bietet etwa der Aufsatz von John Tirman in: Robert E. Looney (ed.): Handbook of US-Middle East Relations. Formative Factors and Regional Perspectives, London 2009), sondern auch äußerst paternalistisch ist, erläutert Ansar Jasmin in ihrer Besprechung dieses jüngsten Werks Lewis'.

Auch ein wichtiger staatlicher Akteur der Region würde der These Lewis' lautstark widersprechen. Dies wird spätestens nach der Lektüre des Konferenzbandes Iran and the International System (London & New York 2011) offenkundig, der jüngst von Anoushiravan Ehteshami und Reza Molavi in der Durham Modern Middle East and Islamic World Series bei Routlegde herausgegeben wurde. Ehteshami, Co-Direktor des britischen Centre for the Advanced Study of the Arab World und renommierter Iran-Fachmann, sowie sein Durhamer Kollege Molavi haben es sich zum Ziel gesetzt, eine etwas andere Perspektive auf die Beziehungen Irans zum internationalen System zu werfen. Dies soll in erster Linie durch die Bemühung einer iranischen Perzeption dieses angespannten Verhältnisses erfolgen, und es kommen entsprechend vor allem iranische Wissenschaftler zu Wort, die tatsächlich im Land und nicht im Exil leben. Nicht nur, aber gerade auch aus diesem Grund ist der Band insbesondere für diejenigen eine anregende Lektüre, "die sich in ihren Arbeiten mit dem Verhältnis des Iran zum internationalen System auseinandersetzen und in Ermangelung entsprechender Sprachkenntnisse nicht auf persische Artikel zurückgreifen können" (Schmidt über Ehteshami und Molavi).

Der Iran und das internationale System sind ebenfalls zwei Faktoren, die seit dem Erscheinen von Radwan Ziadehs erstem Buch in englischer Sprache an zusätzlicher Bedeutung gewonnen haben für ein Land, das in diesen Tagen aus traurigem Anlass im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht: Syrien. In Power and Policy in Syria. Intelligence Services, Foreign Relations and Democracy in the Middle East (London & New York 2010) behandelt der politische Analyst und Menschenrechtsaktivist Ziadeh, der inzwischen auch als Sprecher des Syrischen Nationalrats im Ausland fungiert, die erste Dekade Bashar al-Asads im Präsidentenamt. Ziadeh ist, so Dominik Reich, in diesem Werk immer dann am stärksten, wenn er aus seinem Insiderwissen als syrischer Oppositioneller Kapital schlagen kann, etwa bei der Schilderung des Damaszener Frühlings. Insgesamt jedoch, so Reich, zeigt Power an Policy in Syria anschaulich, dass Bashar zu keinem Zeitpunkt der Reformer war, den viele in- und außerhalb Syriens in ihm sehen wollten, sondern vielmehr der wahre Erbe seines Vaters.

Vor genau 25 Jahren beklagte Lisa Anderson, die nach Professuren in Harvard und an der Columbia University seit 2011 als Präsidentin der American University in Kairo tätig ist, die Dominanz gesellschaftszentrierter Ansätze bei der politikwissenschaftlichen Erforschung des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas (siehe: The State in the Middle East, in: Comparative Politics, 20/1, 1987). Die von ihr geforderte Stärkung staatszentrierter Ansätze wurde wiederum spätestens Mitte der 1990er Jahre so tonangebend, dass inzwischen nicht wenige, und nicht ganz zu Unrecht, genau hierin den Grund sehen, warum die Politikwissenschaft den "Arabischen Frühling" verschlafen habe. Forscherinnen und Forscher, die vor einer allzu einseitigen strukturalistischen Herangehensweise warnten, waren die Ausnahme (siehe z.B. Sonja Hegasy: Die Mär von der arabischen Stagnation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 52/2, 2007). Ein weiterer, hiermit verwandter Vorwurf, mit dem sich die Politikwissenschaft oftmals konfrontiert sieht und der, so die dem von Fred H. Lawson herausgegebenen Band Demystifying Syria (London 2009) zugrunde liegende These, oftmals zu einer Verzerrung politikwissenschaftlicher Forschung führt, ist der sogenannte democracy bias: die Neigung, alles vor dem Hintergrund der eigenen normativen Vorstellungen und auf das Endziel der Demokratie hin zu interpretieren. Dies führe, so der Herausgeber, unabwendbar dazu, dass Staaten und staatliche Entscheidungsträger in der Region oftmals als irrational bezeichnet und mystifiziert werden. Lawson und den anderen Autoren in Demystifying Syria geht es jedoch darum, Syrien aus sich selbst heraus zu erklären und zu entzaubern. Dies wiederum gelingt ihnen so gut, wie Vinzenz Hokema befindet, dass der Band auch nach drei Jahren nicht obsolet geworden ist, seine hellsichtigen Analysen vielmehr die Grundlage für das Verständnis der derzeitigen Lage in Syrien bilden.

Eva Wegners Werk Islamist Opposition in Authoritarian Regimes. The Party of Justice and Development in Morocco (Syracuse 2011) wiederum steht zwar in der Tradition der strukturalistischen Autoritarismusforschung, die sich seit den frühen 2000er Jahren vor allem auf elektoralen Autoritarismus und damit den weltweit verbreitetesten Regimetyp konzentriert - allein dies ist schon ein Beleg dafür, dass man trotz der zu beobachtenden Transformationsprozesse in der arabischen Welt das Kind nicht mit dem Badewasser ausschütten sollte -, Wegner beschränkt sich allerdings nicht darauf, die Beteiligung islamistischer Akteure bei Wahlen in autoritären Regimen einzig unter dem Aspekt der Herrschaftsstabilisierung zu untersuchen. Vielmehr erklärt auch sie die marokkanische PJD aus sich selbst heraus und stellt, "anders als eine Vielzahl von Autoren, die zu islamistischen Parteien arbeiten, nicht die Ideologie und politischen Positionen der Partei in den Mittelpunkt ihrer Analyse, sondern deren Verhalten als pragmatische politische Akteure", so Kerstin Fritzsche. In Bezug auf den kürzlich eingefahrenen Wahlerfolg der PJD schreibt Fritzsche dann auch: "Möchte man den Wahlsieg der PJD im November 2011 verstehen und sich ein besseres Bild davon machen, was von dieser Partei in ihrer neuen Position zu erwarten ist, sollte man dieses Buch gelesen haben."

Zu einem gänzlich anderen Urteil gelangt Roland Kulke in seiner Rezension von Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen (München 2010), bei dessen Verfasser es sich um Olivier Roy handelt und somit um einen der bekanntesten französischen Islamismus-Forscher, dessen 1992 erschienenes L'Échec de l'Islam politique (Paris) nach wie vor als Standardwerk zum politischen Islam gilt. In Heilige Einfalt weitet Roy sein Untersuchungsfeld auch auf andere Religionen aus und geht der Frage nach, welchen Wandlungsprozess Religion in einem zunehmend säkulareren Umfeld durchläuft. Trotz dieser an sich äußerst spannenden Fragestellung bewertet Roland Kulke das Buch nur als mäßig lesenswert, was er vor allem mit dem Fehlen einer konkreten Fragestellung und einer hierauf aufbauenden Argumentationsstruktur begründet. Sein durchaus provokantes Fazit lautet daher: Nutzen Sie Ihr Wochenende sinnvoller als mit der Lektüre dieses Buches.

Den Abschluss dieser Ausgabe des FORUMs Islamische Welten bildet die Besprechung der 2011 erschienenen Monographie Yemen Divided. The Story of a Failed State in South Arabia (London) von Noel Brehony. Auch der Jemen wurde zu Beginn des letzten Jahres von Aufständen erfasst, die durch die Unterzeichnung der Initiative des Golfkooperationsrates im vergangenen November darin gipfelten, dass mit Ali Abdullah Salih das vierte arabische Staatsoberhaupt von der Macht verdrängt wurde - wobei dieser Befund weniger eindeutig ausfällt als in Tunesien, Ägypten und in Libyen, da Salih im Gegensatz zu Ben Ali, Mubarak und Qaddafi nach wie vor wichtige Möglichkeiten der Einflussnahme verblieben sind. Ein weiteres zentrales Problem, mit dem sich Übergangspräsident Abd Rabbuh Mansur al-Hadi in der von der o.e. Initiative auf zwei Jahre angelegten Transitionsphase auseinandersetzen muss, ist die 2007 entstandene Südbewegung, die in großen Teilen auch nach dem Abtritt Salihs eine Rückkehr zur eigenen Staatlichkeit auf dem Gebiet der ehemaligen Demokratischen Volksrepublik Jemen fordert. Brehonys Untersuchung widmet sich eben dieser Geschichte des Südjemens und beleuchtet hierbei auch kritisch die von der Südbewegung vorgetragenen Vorwürfe an den "rückständigen" Norden. Trotz seiner eigenen Vergangenheit - Brehony selbst war als noch junger Diplomat in Diensten der früheren britischen Kolonialmacht in Aden tätig - gelingt ihm dies so differenziert und überzeugend, dass "dieses Buch zu einem wichtigen Referenzwerk für die moderne Jemenforschung" zählen kann, "an welchem keiner vorbeikommen wird, der/die sich für die politische Geschichte des Jemens und die derzeit stattfindenden Umbrüche in Südarabien interessiert" (Heinze über Brehony).

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

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