Fred H. Lawson (ed.): Demystifying Syria (= SOAS Middle East Studies), London / Berkeley / Beirut: Saqi 2009, 223 S., ISBN 978-0-86356-654-7, GBP 14,99
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Warum steht auf Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft in Syrien die Todesstrafe, ihre führenden Politiker aber bleiben unbehelligt? Warum bewegt sich die syrisch-israelische Diplomatie seit einem Jahrzehnt zwischen Annäherung und Eskalation, ohne je zu einem Krieg oder einem Frieden zu führen? Warum gehört zur "schiitischen" Achse Iran-Syrien-Hizbollah auch ausgerechnet die sunnitische Hamas? Ist Baschar al-Asad zu unerfahren und schwach, um eine vernünftige Außenpolitik zu implementieren? Häufig werden das syrische Regime und dessen Politik in den Medien - und von Wissenschaftlern - als "irrational", "unverständlich" und "kontraproduktiv" bezeichnet. Das Anliegen des vorliegenden Buches ist es, diese exzeptionalistische Beschreibung Syriens zu korrigieren und Syrien zu "entmystifizieren". Denn dieses Syrienbild basiere, so der Herausgeber Fred H. Lawson, oftmals auf einer fehlerhaften oder unzureichenden Analyse der Einflussfaktoren, Ressourcen, Möglichkeiten, Personalia und strategischen Entscheidungen des Regimes (9f). Die entsprechenden Analysen bezeichnet Lawson als unfair und schlichtweg falsch, deren Verfasser als verständnislos (unsympathetic) (10). Die ihnen zugrunde liegende Geisteshaltung des "westlichen liberalen Denkens" identifiziert er als "a tendency to interpret actions and platforms that do not conform to its own basic tenets as irrational or inexplicable" (ebd).
Die Beiträge des Sammelbandes verfolgen daher einen anderen Ansatz, sie möchten Syrien aus sich selbst heraus erklären. Die umfassenden Belege aus Originalquellen sind entsprechend vorbildlich. Wissenschaftler, Aktivisten, Intellektuelle, Politiker und "einfache" Bürger aus Syrien und den umliegenden Ländern kommen in Interviews der Autoren zu Wort, arabische und türkische Zeitungs- und Gesetzestexte werden rezipiert (mitunter zumindest über Übersetzungsdienste westlicher Nachrichtenhäuser), so dass die leider übliche Beschränkung auf die Rezeption der immer gleichen westlichen wissenschaftlichen Literatur zur Region vermieden wird (10). Denn diese Literatur zu Syrien lässt große Lücken im Forschungsstand [1] - Bassam Haddad (Arab Studies Journal, MERIP), einer der Autoren, spricht beispielsweise von der Informationslage zum syrischen privaten Sektor als "absence of fruitful field research" (30). Diese Lücke suchen die mehrheitlich aufwendig recherchierten Kapitel zu schließen. Demystifying Syria versammelt hierzu viele namhafte Autoren, neben dem Herausgeber selbst sind dies etwa Joshua Landis (syriacomment.com), Bassel Salloukh, Salwa Ismail, Joe Pace, Thomas Pierret und Anja Zorob. Dabei werden alle politikwissenschaftlichen Bereiche und auch ein islamwissenschaftliches Thema behandelt: In kurzen Schlaglichtern werden Innenpolitik, Außenpolitik und wirtschaftliche Entwicklung beleuchtet. Der zeitliche Rahmen der Analyse ist weitgehend das Jahrzehnt seit Baschar al-Asads Amtsantritt. Einige Beiträge sind Einblicke in Ergebnisse jahrelanger Arbeit. Das zeigt sich, wenn Interviewtermine in Damaskus teilweise zehn Jahre auseinanderliegen (50) oder zu größeren Publikationen führen. [2]
Zur innenpolitischen Analyse Syriens wird die Regimebasis und sozio-politische Struktur untersucht. Die sozio-ökonomische Basis des Regimes wird offengelegt, indem die engen Bindungen der syrischen Wirtschaft an Administration und Sicherheitsdienste und das Entstehen der politisch-ökonomischen Staatsklasse beschrieben werden. Die politische Bedeutung und Spaltung der Händler und Industriellen für oder gegen das Regime findet ebenfalls Erwähnung (Ismail, Haddad). Ähnliches zeigt die differenzierte Betrachtung der Rolle der Islamisten und der islamischen Eliten, von denen einige in Opposition zum Staat stehen, andere neutral oder vom Staat kooptiert sind (Pierret).
Die Frage nach den Minderheiten der Alawiten und Kurden vertieft die Betrachtung der Regimebasis weiter, etwa über die - leider etwas kryptische - Betrachtung des Alawismus' und die Feststellung, dass eine Analyse Syriens als rein alawitische Diktatur falsch ist (Ismail). Die politische Diskriminierung der kurdischen Syrer wird im Zusammenhang mit dem Massaker in Qamischli beschrieben. Darauf folgt eine Analyse der zunehmend vereinheitlichten und schlagkräftigen kurdischen Organisationen (Gauthier) und der Bedeutung der Kurden innerhalb der syrischen Opposition (Pace/Landis). Joe Pace und Joshua Landis zeichnen anschließend die wechselhafte Geschichte von Repression und Tolerierung der Opposition zwischen 2000 und 2008 nach.
In einer Betrachtung des syrischen Wirtschaftsrechts wird die erstaunliche Beständigkeit des syrischen Gesetzestextes seit 1949 beschrieben, die im Widerspruch zu den völlig gewandelten politischen Verhältnissen steht. Eine weitere Schlussfolgerung ist, dass der widersprüchliche Gesetzestext jede wirtschaftliche Aktivität auf die eine oder andere Art kriminalisiert - die Kontrolle, die das Regime sich dadurch über die syrische Wirtschaft und über Einzelne verschafft, wird überdeutlich (Ghazzal/Dupret/Belhadj). Inhaltlich weniger mit den übrigen Kapiteln verknüpft ist die Beschreibung von schiitischen Mausoleen und ihrer Nutzung, die iranischen Einfluss auf die schiitische und religiöse Infrastruktur erkennen lässt (Ababsa).
Die Analyse der außenpolitischen Stellung Syriens folgt in den drei letzten Kapiteln. Zunächst wird aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive die EU-Mittelmeerpolitik gegenüber Syrien untersucht. Der Fokus liegt dabei auf den Chancen und Schwierigkeiten, die ein Freihandelsabkommen Syriens mit der EU mit sich bringen könnte (Zorob).
Die neorealistische Analyse von Konflikten, welche die Regime Change-Politik des ehemaligen US-Präsidenten Bush jr. in der Region verursachte, zeigt, dass Syrien den Irak und den Libanon geschickt als Spielfeld nutzte, um dem Druck der US-Außenpolitik widerstehen zu können. Entgegen der häufigen Behauptung, Baschar al-Asads Außenpolitik zeige seine Unerfahrenheit und sein Ungeschick (10), wird die syrische Außenpolitik als ein rationales und zielführendes Kunststück geschildert, mit dem sich Syrien wieder begrenzt in die internationale Gemeinschaft eingliedern konnte (Salloukh). Abschließend werden die Beziehungen zur Türkei untersucht, die sich innerhalb von zehn Jahren radikal gewandelt haben - von einem "unerklärten Krieg" zu einer strategischen Partnerschaft, in der die Konflikte über Wassernutzung und den Umgang mit den kurdischen Minderheiten beider Länder geregelt werden können. Darüber hinaus gelang es Syrien, das Ende der engen Partnerschaft zwischen Türkei und Israel abzupassen und selbst eine enge Partnerschaft mit der Türkei aufzubauen (Lawson). Leider verzichtete Lawson darauf, dem Sammelband ein abschließendes Fazit anzuschließen, um die gewonnenen Erkenntnisse und "Entzauberungen" der einzelnen Aufsätze noch einmal zu einem Gesamtbild zu verweben.
Demystifying Syria erschien 2009. Seitdem hat die blutige "Arabellion" die syrische Politik auf den Kopf gestellt: Große Teile der Opposition weiteten ihre Zusammenarbeit aus, der Syrische Nationalrat im Istanbuler Exil nahm die Arbeit wieder auf und es bildeten sich weitere Organisationen wie der Syrische Koordinationsrat, die Freie Syrische Armee und lokal agierende Bürgerwehren. Die Repression der Opposition durch das syrische Regime erfolgt nun mit ausgesprochen gewalttätigen Mitteln. Auch die ökonomischen, politischen und militärischen Verflechtungen Syriens in- und außerhalb der Region haben sich grundlegend gewandelt. Die hier besprochenen innen- und außenpolitischen Analysen sind also nicht mehr direkt auf die heutige Lage übertragbar. Innerhalb von drei Jahren ist das Buch zwar veraltet - aber keinesfalls obsolet, denn die Autoren liefern hellsichtige Analysen der Situation bis 2009, die das Verständnis für die Grundlagen der derzeitigen Lage ermöglichen. Nach der Lektüre bleiben keine Exzeptionalismen oder Wunderlichkeiten, die die Syrer und ihren Staat als bloße "Ausnahme" von der verstehbaren Realität bezeichnen, sondern weitestgehend nachvollziehbare Erklärungen dafür, warum Syrien so und nicht anders ist oder handelt. Ein erhellender Band.
Anmerkungen:
[1] Es existieren nur wenige Standardwerke zu Syrien, die mit größter Regelmäßigkeit zitiert werden, so beispielsweise Raymond Hinnebusch: Authoritarian power and state formation in Ba'thist Syria, Boulder 1990 und ders.: Syria: Revolution from above, London 2001 oder Volker Perthes: Political economy of Syria under Asad, London 1995.
[2] Bassam Haddad: Business Networks in Syria. Stanford 2012.
Vinzenz Hokema