Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2005, 320 S., ISBN 978-3-518-12454-3, EUR 11,00
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"Am Umgang mit schwachen Gruppen erkennt man den gesellschaftlichen Zusammenhalt." So lautet die Prämisse im hier besprochenen Sammelband über "Deutsche Zustände", der von einem Forschungsteam um den Bielefelder Soziologen Heitmeyer auf der Internetseite veröffentlicht wird. [1] Das Team untersucht im Rahmen dieser Studie das Phänomen der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit". Darunter fallen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie (Angst vor Vielfalt), Islamophobie und der klassische Sexismus. Aber auch Etabliertenvorrechte, welche die Rangfolgen innerhalb einer Gesellschaft beschreiben, die sich aus der Unterscheidung zwischen Alteingesessenen und Hinzugekommenen ergeben, werden analysiert.
Die Reihe "Deutsche Zustände" ist eine auf zehn Jahre ausgelegte Studie, die von Soziologen, Psychologen und Sozialwissenschaftlern durchgeführt wird. Ergänzt wird sie durch Beiträge von Journalisten und Vertretern aus dem öffentlichen Leben wie beispielsweise dem SPD-Abgeordneten Hans-Peter Bartels, der einen eigenen Beitrag über Kapitalismuskritik verfasst hat. Herausgeber der Reihe ist der Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer. Um eine unabhängige Forschung zu gewährleisten, finanziert sich die Studie mittels eines Stiftungskonsortiums unter Leitung der VW-Stiftung in Verbindung mit der Freudenberg-Stiftung und der Möllgard-Stiftung. Zu den Kooperationspartnern gehören auch die DIE ZEIT, in der jedes Jahr zentrale Ereignisse der Studie veröffentlicht werden, und der Suhrkamp-Verlag, in dem gleichzeitig ein jährlicher Report unter dem Titel "Deutsche Zustände" erscheint. Das hier zu besprechende Werk stellt die vierte Folge dieses Jahresberichtes dar.
Die zentralen Fragen der Langzeitstudie lauten: "In welchem Ausmaß wird die Würde zahlenmäßig schwacher bzw. so genannter beschwerdearmer Gruppen angetastet durch abwertende, ausgrenzende Einstellungen und diskriminierendes Verhalten anderer Personen? Welche Erklärungen sind dafür zu finden, dass sich menschenfeindliche Mentalitäten in dieser Gesellschaft hartnäckig halten bzw. ausbreiten? Wo werden Veränderungen in den Ausmaßen und Zusammenhängen im Zeitablauf sichtbar?"
Der erste Teil des Buches gibt eine wissenschaftliche Definition des Problems der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit", also der Ungleichwertigkeit spezifischer Gruppen. Es sei vorweggenommen, dass der Band Formal aufgrund seiner ausführlichen Statistikauswertungen für ungeübte Leser nicht sehr leicht zugänglich ist. Durch die Auswertung einer repräsentativen Befragung soll der Zusammenhang zwischen der Ideologie der Ungleichheit und der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" hergestellt werden. Ideologie der Ungleichheit meint hier in erster Linie das Phänomen von Anomia. In früheren Aufsätzen hat Heitmeyer dieses Phänomen, das in der Orientierungslosigkeit des Einzelnen den Grund für die Abwertung von Minderheiten sieht, bereits ausführlich beschrieben.
Im ersten Kapitel stellt Heitmeyer fest, dass die Gesellschaft aufgrund von Kontrollverlusten, Orientierungslosigkeit und Unbeeinflussbarkeit verstört ist. Gerade die Orientierungslosigkeit, bei der es dem Betroffenen aufgrund von wirtschaftlichen Unsicherheiten an grundsätzlicher Stabilität mangelt, hat sich als zentrales Problem erwiesen. Heitmeyer übersieht dabei jedoch, dass gesellschaftliche Verstörungen und die Ungerichtetheit und Unbeeinflussbarkeit, die mit Kontrollverlusten einhergeht, im historischen Verlauf durchaus auch für wichtige Entwicklungsschübe gesorgt haben. Dass im Zuge solcher Umbrüche Minderheiten verstärkt angefeindet werden, ist kein neues Phänomen. Dies macht es nicht weniger gravierend. Allgemeine Orientierungslosigkeit sollte jedoch nicht als alleinige Erklärung für "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" genannt werden, denn auch durch globale Trends wie der Abschottung Europas und einer "medialen Hetze" gegen Muslime u.a. wird Hetero- und in diesem Fall Islamophobie hervorgebracht und gefördert.
Insgesamt interessanter wäre, weniger die Frage nach den Erklärungen oder Veränderungen für diese "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" als vielmehr die Frage nach dem Umgang damit zu stellen. Die Studie verbleibt bei einer Zustandsbeschreibung, die intuitive Einsichten wissenschaftlich bestätigt. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, den Band mit einem Gespräch mit dem Bischof von Berlin und dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber, abzuschließen. Seine Aussage, das Syndrom der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" sei eine Begleiterscheinung der Erosion sozialer Bindungen, ist täglich (in ähnlicher Form) in den Kommentaren/Feuilletons der Zeitungen nachzulesen.
Der im dritten Kapitel untersuchte Zusammenhang zwischen Religiosität und Abwertung kann nur in Teilen nachgewiesen werden. Aus diesem Grund endet das Kapitel mit einer allgemeinen Aufforderung zu einem intensiveren intra-religiösen Dialog der christlichen Kirchen sowie einem inter-religiösen Dialog mit anderen Glaubensrichtungen. Hier fehlt ebenfalls ein neuer Ansatz über das "Wie" des Dialogs. Die Notwendigkeit eines Dialogs kann aber für den aufmerksamen Beobachter/Zeitungsleser als bereits gegeben angesehen werden.
Zur Illustration des empirischen ersten Teils werden im vierten Kapitel Fallbeispiele geschildert. Themen sind Rechtsextremismus, Antisemitismus, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit. Den Abschluss dieses Parts bildet ein Gespräch mit drei Frauen aus Sachsen über Politik, soziale Gerechtigkeit und Ausländer. Das Kapitel besticht durch den leserfreundlichen Bericht - letztlich stellt sich dem Rezensenten jedoch die Frage nach dem eigentlichen Sinn dieses Abschnittes.
Überzeugendere Visionen über die Zukunft der Gesellschaft zu liefern, wird auch in der vierten Folge der "Deutschen Zustände" gefordert. Es fehlen jedoch Definitionen einer solchen Gesellschaft. Insgesamt bleibt der Eindruck, nicht viel Neues zu erfahren. Nichtsdestotrotz ist es ein Verdienst der Studie, das Phänomen der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" in den wissenschaftlichen Fokus zu rücken. Die von Heitmeyer im Vorwort angemahnte Verantwortung der Eliten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft bleibt schließlich gültig.
Lesen sollte den Sammelband, wer sich einen Überblick über die unterschiedlichen Aspekte der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" machen will oder wer erfahren möchte, was der gemeinsame Kern dieser Feindlichkeit ist. Die repräsentativen Befragungen des ersten Teils bieten darüber hinaus einen Anknüpfungspunkt für weitergehende Forschung.
Anmerkung:
[1] Vgl. http://www.uni-bielefeld.de/ikg/Feindseligkeit/Einfuehrung.html
Claudia Müllauer