Josef Boyer / Helge Heidemeyer (Bearb.): Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle 1983-1987 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945; Bd. 14), Düsseldorf: Droste 2008, 2 Bde., CXXVII + 1137 S., ISBN 978-3-7700-5286-8, EUR 140,00
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Der 29. März 1983 bedeutete einen Einschnitt in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus. Nicht nur, dass mit den Grünen eine neu gegründete Partei die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestagswahlen übersprungen hatte und deshalb das scheinbar dauerhafte Drei-Fraktionen-System des Parlaments veränderte. Die Neulinge vertraten zudem aus außerparlamentarischen Protestbewegungen gewonnene Vorstellungen über Bedeutung und Funktion des Parlaments, radikal neue Ideen und Symbole, einen anderen Lebensstil bis hin zur Kleidung. Sie wollten "als Lobby der Tiere und Pflanzen, der unterdrückten Minderheiten, der diskriminierten Frauen, Kinder, Behinderten, der Alten und der Kranken in den Bundestag einziehen." (Petra Kelly, 47) Wie das Neuartige denn konkret aussehen solle, darüber herrschten allerdings verschiedene Auffassungen. Letztlich hatten sich in der neuen Partei nur mit Mühe Menschen aus ganz unterschiedlichen Strömungen zusammengefunden. Aus diesem Grund gestaltete sich die erste Legislaturperiode der Fraktion spannend, widersprüchlich, chaotisch und in einem Zwiespalt von großer Aktivität (etwa was die Zahl der Anfragen und Gesetzesinitiativen angeht) und Ineffektivität endlos erscheinender Grundsatzdiskussionen.
Die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien legt nun zusammen mit dem Archiv Grünes Gedächtnis eine über 1100 Seiten umfassende, auf zwei Halbbände aufgeteilte Dokumentation der Tätigkeit der Fraktion "Die Grünen im Bundestag" für die Zeit von 1983 bis 1987 vor. Diese Dokumentation knüpft an frühere von der Parlamentarismuskommission vorlegte Editionen von Fraktionsprotokollen zwar an, in denen die Bedeutung der Ebene der Fraktionen als Ort der Positionsfindung und der Meinungsbildung für das politische System bereits gezeigt worden ist. [1] Sie ergänzt die lange Reihe der Quelleneditionen, die in jeder guten wissenschaftlichen Bibliothek zu finden sind und die schon Generationen von Studierenden benutzt haben. Dennoch stellt der hier vorzustellende Band in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit dar. Er behandelt die zeitnahen 1980er Jahre, spricht über zumeist noch lebende Personen. Die Bearbeiter sahen sich mit einer diffusen Überlieferungssituation konfrontiert. Die ganz spezielle Quellenproblematik beginnt schon dabei, dass die Grünen sich zumeist beim Vornamen oder Spitznamen ansprachen, die Sitzungen für Basisinitiativen und Gäste geöffnet waren, deren Namen, Abkürzungen und Szenebegriffe heute wie eine Geheimsprache anmuten mögen. Die Ausdrucksweise ist zumeist unverblümt und direkt, zuweilen witzig, sodass die Quellen einen geradezu intimen Einblick in die konfliktreiche Kommunikation der Fraktion bieten.
Die Bearbeiter des Bandes haben diese und andere Herausforderungen nicht nur bewältigt, indem sie Informationen entschlüsselt und durch Kommentare, Register und Glossar nachvollziehbar gemacht haben. Mehr noch, sie haben insgesamt ein ungemein spannendes Stück Zeitgeschichte sorgfältig und benutzerfreundlich aufgearbeitet, sodass der Leser bei der Lektüre der Quellen von deren Authentizität gepackt werden und eine gewisse "Lesefreude" entwickeln kann. Die Edition lässt handwerklich nichts zu wünschen übrig: Sie enthält eine gut begründete und überzeugende Dokumentenauswahl, sorgfältig recherchierte Nachweise, Ergänzungen und Querverweise, Kurzbiografien aller Abgeordneten der Fraktion, ein kommentiertes Personen- und ein gut strukturiertes Sachregister.
Die prägnante Einleitung von Helge Heidemeyer erklärt nach einem Überblick über Forschungsstand und Quellenlage den Aufbau und die Gestaltungsgrundsätze der Edition. Sie legt darüber hinaus aber auch eine der Auswahl der Quellen zugrunde liegende forschungsleitende Fragestellung nahe. Im Vordergrund stehen der Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit und die Frage nach (frustrierenden) Misserfolgen und (die politische Kultur langfristig prägenden) "Erfolgen auf den zweiten Blick". Diese sehr überzeugende Schwerpunktsetzung strukturiert den Band und kann als Leitfaden für eine aus der Sicht der historischen Parlamentarismusforschung formulierte grundsätzliche Frage gesehen werden. Es geht letztlich um die Problematik der "Professionalisierung" der Grünen. Das Verständnis wird dadurch befördert, dass nicht nur die Protokolle der Fraktion, sondern auch passende und erklärende Anlagen, Berichte, Vermerke und Sitzungsunterlagen ediert worden sind.
Der Anspruch der frühen Grünen war geprägt davon, dem Berufspolitikertum der anderen Fraktionen eine basisdemokratische, auf sachbezogener Kollektivarbeit aufbauende neue Arbeitsweise entgegenzusetzen. In diesem Verständnis wurden die außerparlamentarischen Bewegungen als "Standbein" der Partei gesehen, während die Arbeit im Parlament nur "Spielbein" und öffentliche Schaubühne sei. (768) Es sollten keine Stars entstehen, man wollte nicht mit Köpfen werben, sondern die Macht (und auch die Arbeit) auf viele Schultern verteilen. Aus diesem Verständnis heraus wurde der Grundsatz der Rotation, also der Wechsel der Abgeordneten in der Mitte der Legislaturperiode, zum wichtigen, umstrittenen und heiß diskutierten Thema. Das erste Dokument der Edition beinhaltet deshalb die noch vor der Fraktionsgründung von der Partei gefassten Beschlüsse zur Rotation. Dieses Thema und seine komplizierte Umsetzung durch "Bürogemeinschaften" von Abgeordnetem und designiertem Nachrücker beherrschten und lähmten die Arbeit der Fraktion.
Die Edition spiegelt die gesamte Bandbreite der Themen wider, die die Grünen beschäftigt haben: Umweltschutz, Atomenergie, die RAF-Debatte, das schwierige Verhältnis zu Israel und Palästina, das Prinzip der Gewaltfreiheit, Frauenrechte und Sexismus (auch durch einen Sexskandal innerhalb der Fraktion), aber auch die Frage der Verbindung zur Öko- und Friedensbewegung in der DDR und in den USA oder die beginnenden Reformen Gorbatschows. Auch anekdotisch anmutende Details, wie die Nachfrage nach dem - damals noch nicht üblichen - vegetarischen Essen in der Bundestagskantine oder die Mahnung, nach dem Kneipenbesuch den Fahrdienst nicht zu bemühen, sagen etwas aus über die politische Kultur der Zeit. Wenn der Fraktionsgeschäftsführer Michael Vesper in seinem Tätigkeitsbericht bilanziert: "Die Fraktion war auf den Einzug in den Bundestag organisatorisch in keiner Weise vorbereitet" (449), so kann das der Leser der Dokumente nur bestätigen. Vesper, "ohne den es die Fraktion nicht gäbe" (Otto Schily, 1071), hatte in den verworrenen Strukturen die Fäden in der Hand. Er erscheint durch die Edition als Organisationstalent und bewahrte die Fraktion vor manchem Desaster.
Es zeigt sich vor allem auch eine Unsicherheit der Strukturen, der Machtfragen, auch der Frage, wer oder was denn "die Basis" eigentlich sei. Um den ständigen Kontakt mit "der Basis" zur erhalten, wurden diverse Arbeitskreise und Untergruppen gebildet. Hier hilft die Edition durch die Strukturierung im Glossar und Register, sodass man sowohl Grundsatz-, Prinzipien- als auch Detailfragen nachgehen kann. So kann man etwa den befremdlich erscheinenden Konflikt in der Bundesarbeitsgemeinschaft "Schwule und Päderasten" (SCHwuP) nachvollziehen, die mit dem Wirken "ihres" Abgeordneten Herbert Rusche, laut Kurzbiografie "erster offen homosexueller BT-Abgeordneter" (LXXII), unzufrieden war, da er sich "in diffamierender Form über Pädophile" (769) geäußert habe.
Die Edition eignet sich kaum zur romantischen Verklärung der grünen Anfangsjahre, sondern zeigt gerade in der schonungslos offengelegten Binnensicht einen harten Lern- und Klärungsprozess auf. Letztlich war die Fraktion zum Schluss der Legislaturperiode aufgerieben und im wahrsten Sinne des Wortes "am Ende". Dennoch wurden, nicht nur wegen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, die von den Grünen aufgeworfenen Themen öffentlich als wichtig erachtet, sodass im Jahr 1987 der Wiedereinzug in den Bundestag wahrscheinlich wurde und schließlich auch gelang.
Der Forschungsstand zu den Grünen wird durch die Edition nicht grundlegend umgeworfen; dazu waren die Prozesse zu sehr öffentlich wirksam. Sie schafft jedoch Klarheit, bietet beeindruckende Einblicke in die inneren Prozesse der Kommunikation und liefert viel Neues. So wird man etwa die wichtige Rolle Vespers höher bewerten müssen als dies bisher geschehen ist. Insgesamt gilt ohne Umschweife, wie es Andreas Wirsching im Vorwort formuliert hat, dass die Parlamentarismuskommission "der Öffentlichkeit eine erstrangige zeithistorische Quelle"(V) zugänglich gemacht hat. Es wäre wünschenswert, wenn auch für die folgende Legislaturperiode eine solche Edition erarbeitet werden könnte.
Anmerkung:
[1] Vgl. aus der Fülle der Edition nur die zuletzt erschienenen Bände: Corinna Franz (Bearb.): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1961-1966 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Reihe 4; Band 11/4), Düsseldorf 2004; Volker Stalman (Bearb.): Linksliberalismus in Preußen. Die Sitzungsprotokolle der preußischen Landtagsfraktion der DDP und DStP 1919-1932 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Reihe 3; Band 11), Düsseldorf 2009; Bettina Tüffers (Bearb.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1966-1969 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Reihe 4; Band 8/IV), Düsseldorf 2009.
Tobias Kaiser