Christiane Eisenberg: Englands Weg in die Marktgesellschaft (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 187), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 166 S., ISBN 978-3-525-37008-7, EUR 32,90
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Warum war England am Ende der Frühen Neuzeit wirtschaftlich so erfolgreich? Über diese Frage ist viel geschrieben und gerätselt worden - und die Debatte dauert unvermindert an. [1] Die vor allem in Deutschland weiterhin wirksamen welthistorischen Einordnungsversuche von Max Weber, Werner Sombart und Karl Marx leiden freilich, wie Eisenberg in ihrer Einleitung prägnant deutlich macht, an einem Englandproblem: Begrenzte Kenntnis des Gegenstandes (Marx, Weber) oder geringe Sympathie für das Land der "Händler" (Sombart) führten zu irrigen Interpretationen. Weber etwa überschätzte die Rolle des Puritanismus, während Marx die Machtmittel einer organisierten Arbeiterschaft, ihre Lebensverhältnisse in kapitalistischen Marktstrukturen zu verbessern, unterschätzte.
Eisenberg, eine der besten Kennerinnen der englischen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte, legt nun in konziser Form die Ergebnisse der im Laufe der letzten Jahre nicht zuletzt von ihr selbst erarbeiteten Forschungen zum Thema dar [2] und formuliert auf dieser Grundlage eine eigene Interpretation. Eisenberg schlägt sich auf die Seite derjenigen, die in der Entstehung einer Marktgesellschaft, in der Land, Arbeit, später auch Schuldverschreibungen von Staat(en) und Unternehmen frei gehandelt werden konnten, den eigentlichen Durchbruch sehen. Dagegen gilt ihr die lange im Zentrum der Diskussion stehende Industrialisierung (oder "Industrielle Revolution") als Epoche des relativen Niedergangs, in der Englands Märkte die Fähigkeit zur Innovation verloren und die mangelnde Konzentration auf "Leistung" zu einem Erschlaffen der seit dem Mittelalter andauernden Dynamik führte.
Eisenbergs Darstellung beginnt mit der normannischen Eroberung, die sie als Gründungsmoment der englischen Marktgesellschaft wertet. Land wurde durch den Wechsel der Führungsschicht aus seinen bisherigen personengebundenen Abhängigkeiten gelöst, konnte ge- und verkauft, ge- und verpachtet werden. Die frühe Monetarisierung persönlicher Dienstleistungen trug ein Weiteres dazu bei, dass sich immer mehr Menschen an Märkten in den zahlreichen kleinen Städten orientierten, Vertrags- und damit Vertrauensverhältnisse aufbauten und ein positives Marktverständnis entwickelten.
In gewissem Sinne ging es fortan auf den einmal gelegten Grundlagen immer weiter überwiegend krisen- und rückschlagsfrei nach oben. Gewiss kamen neue Märkte (im 17. und 18. Jahrhundert der Fernhandel) und neue Marktmechanismen (Börse, Staatsbank) hinzu, aber im Kern bediente man sich weiter der bereits früh entwickelten Rechtsformen (vor allem des trust), während die ursprünglich auf den Ackerbau zentrierte Marktgesellschaft in Richtung des Fernhandels ausgriff und einen immer größeren Umfang annahm. Dabei wurden einzelne Elemente aus den - ja ebenfalls als erste moderne Wirtschaft titulierten [2] - Niederlanden übernommen, aber wie in vielen Kulturtransfers spielten dabei, so Eisenberg, die Bedürfnisse der englischen Gesellschaft eine größere Rolle als die der holländischen. Somit ordnet Eisenberg die "Finanzrevolution" des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts in eine längerfristige Kontinuität ein.
Ein besonders innovativer Zug von Eisenbergs Darstellung ist die konsequente Frage nach der kulturellen Einbettung und Vermittlung der Marktgesellschaft. Es verwundert bei einer bekannten Sporthistorikerin nicht, dass sie auf die zentrale Rolle spielerischer Spekulation verweist. Die englische Freizeitkultur wurde nicht nur weitgehend nach Marktmechanismen organisiert, sondern vermittelte auch Verhaltensweisen und Strategien, die sich auf Märkten besonders gut anwenden ließen. Sie nahm in gewissem Sinne damit auch Marktverhalten seine existenzialistische Ernsthaftigkeit und der Kritik an Märkten, Spekulation und Marktverhalten (die Eisenberg vielleicht etwas zu gering ansetzt) ihre Spitze.
Abschließend weist Eisenberg auf die massive quantitative Expansion der marktorientierten Klassen (Kaufleute, Rechtsanwälte, Makler usw.) in England hin, welche - entgegen der schematischen theoretischen Abfolge von Agrar-, Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft - in England offenbar vor der Industrialisierung eine zentrale Rolle zu spielen begannen.
Das knappe Buch mit einer starken These verdient eine breite Resonanz. Zum einen, weil es eine ungewöhnlich konzise und zugleich ausgewogene Einführung in die wirtschafts-, sozial- und kulturhistorischen Debatten zu den (Vor-)Geschichten der Industrialisierung und damit zur wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der atlantischen Welt enthält. Zum anderen, weil ihre Thesen erheblichen Diskussionsanreiz bieten. Sie laden ebenso zu Vergleichen ein - etwa mit den langfristigen Folgen der normannischen Eroberung Siziliens - wie zur Reflexion mancher Wertungen. Auffällig ist das relative geringe Gewicht der politischen Rahmenbedingungen sowie der Wissenschaftsgeschichte. Die Loslösung der Märkte von der politischen Konstellation lädt somit zum Überdenken des Verhältnisses zwischen Markt und Demokratie in der Frühen Neuzeit ein. Zudem fand ich interessant, dass Eisenberg die relativ offene Konkurrenzsituation im Parlament, den Leistungsdruck in aristokratischen Familien und die ständige Ermahnung, fleißig zu sein [4] nicht als Schulung zu Markttugenden begreift, sondern insgesamt die Dominanz einer Abkehr von Leistung und Konkurrenz als Voraussetzung der Marktpopularisierung sieht. Ein spannendes Buch also, das eine solide Basis für und viele Anregungen zu neuen Forschungsfragen bietet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Gregory Clark, A Farewell to Alms. A Brief Economic History of the World, Princeton 2007; Jan de Vries: The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2007.
[2] "English sports" und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939, Paderborn 1999; Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich, Göttingen 1986.
[3] Jan de Vries / Ad van der Woude: The First Modern Economy. Success, Failure, and Perseverance of the Dutch Economy, 1500-1815, Cambridge 1997.
[4] Paul Langford: Englishness Identified. Manners and Character 1650-1850, Oxford 2000.
Andreas Fahrmeir