Christoph Vietzke: Konfrontation und Kooperation. Funktionäre und Arbeiter in Großbetrieben der DDR vor und nach dem Mauerbau (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen; Bd. 36), Essen: Klartext 2008, 280 S., ISBN 978-3-8375-0121-6, EUR 34,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wolfgang Benz / Michael F. Scholz: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte Band 22. Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949, Die DDR 1949-1990, Stuttgart: Klett-Cotta 2009
Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, München: Siedler 2023
Rudolf Boch / Rainer Karlsch (Hgg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex. Band 1: Studien, Berlin: Ch. Links Verlag 2011
Die SED hatte stets ein ambivalentes Verhältnis zur Betriebsgebundenheit der Arbeiter und Funktionäre. Auf der einen Seite förderte sie die enge Bindung an den Betrieb, um langfristig gesehen Stammbelegschaften bilden und die betriebliche Fluktuation unterbinden zu können. Auf der anderen Seite fürchtete sich das Politbüro vor einer Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben und prangerte in dem Zusammenhang immer wieder den "Betriebsegoismus" an. Die Durchsetzung und Abwehr von Herrschaftsansprüchen der ostdeutschen Staats- und Parteiführung in den Betrieben ist seit geraumer Zeit ein zentrales Thema der historischen Forschung, denn auf diesem Wege lassen sich Rückschlüsse über den Charakter und die tatsächliche Machtfülle des SED-Regimes ziehen. In dieses Themenfeld reiht sich auch die vorliegende Studie ein, die aus einer Dissertation an der Universität Köln hervorging. Im Zentrum der Untersuchung steht das Verhalten der Funktionäre und der Arbeiterschaft in drei ausgewählten Betrieben, und zwar im VEB Carl Zeiss Jena, VEB Transformatorenwerk "Karl Liebknecht" Oberschöneweide (TRO) in Berlin und im VEB Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) in Eisenhüttenstadt (bis 1961 Stalinstadt). Vietzke geht unter anderem der Frage nach, ob und inwieweit die Werksleitungen sowie die Betriebspartei- und Betriebsgewerkschaftsleitungen nur ein verlängerter Arm der SED-Parteiführung waren oder ob es ein stillschweigendes Bündnis zwischen den einzelnen Akteuren auf betrieblicher Ebene gegen die Ostberliner Staats- und Parteiführung gab.
Für seine Studie hat der Autor die relevanten Aktenbestände der entsprechenden Unternehmensarchive, der jeweiligen staatlichen Provenienz sowie der SED-Überlieferung ausgewertet. Dass die Studie den Eigensinn der Arbeiter und Funktionäre auf der unteren Ebene hervorhebt, überrascht letztlich nicht, bestätigt sie doch im Wesentlichen die bisher vorgelegten Forschungsergebnisse zum betrieblichen Alltag in der DDR. Das ist sicherlich auch auf die zeitliche Eingrenzung auf die Jahre zwischen 1959 und 1965 zurückzuführen, die bereits gut erforscht sind. Insbesondere zum sogenannten Brigadewesen gibt es eine Flut an Publikationen. Aufschlussreich sind jedoch die vielen Facetten und Differenzierungen, die der Autor in seinem Buch zeichnet.
Die Arbeit gliedert sich in vier unterschiedlich große Teile. Im ersten Kapitel versucht Vietzke, die Bedeutung der betrieblichen Verbundenheit für die Herrschaft in den Betrieben durch eine Innen- und Außenansicht zu illustrieren. Dabei widmet er sich ausführlich der Rolle und Funktion der jeweiligen Werkleiter bzw. der Parteisekretäre vor Ort. Er gelangt zu dem interessanten Ergebnis, dass es für Werkleiter durchaus möglich war, eine Untersuchung übergeordneter Instanzen zu überstehen. Dagegen befanden sich Parteisekretäre auf einem Schleudersitz, da sie oftmals mitschuldig gemacht wurden, wenn Werkleiter wegen Planrückständen oder anderer Verfehlungen abgesetzt werden sollten. Das zweite Kapitel untersucht die Auswirkungen der Lohnpolitik auf die Betriebsebene und geht der Frage nach, ob sich in diesem Kontext ein Pakt zwischen den mittleren Betriebsfunktionären und der Arbeiterschaft herausbildete. Hier gab es durchaus Unterschiede zwischen den drei untersuchten Betrieben, die vor allem mit dem Organisationsgrad der SED vor Ort zusammenhingen. So waren im VEB Carl Zeiss Jena sehr viel weniger Betriebsfunktionäre Parteimitglieder als in den beiden anderen Betrieben. Nach Ansicht Vietzkes stärkte die Parteimitgliedschaft des Leiters die Verhandlungsposition der gesamten Abteilung und ließ Spielraum für Kritik an Missständen des planwirtschaftlichen Systems. Dagegen prallte Kritik eines Parteilosen an den oberen Instanzen leichter ab und konnte schneller als "negativ" abgestempelt werden.
Im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen die Strategien der Herrschaftssicherung im Betrieb. Dazu analysierte der Verfasser eingehend die Reichweite der sogenannten Vorzeigebrigaden und Schwerpunktabteilungen als Herrschaftsinstrumente der SED. In allen drei Großbetrieben bedeutete der Mauerbau 1961 eine Zäsur. Zum einen verfeinerte die herrschende Partei in der DDR ihre Arbeitsweise und versuchte Rücksicht auf die sozioökonomischen Interessen der Belegschaften zu nehmen. Zum zweiten machte sich innerhalb kürzester Zeit eine Ernüchterung unter den Funktionären breit, die feststellen mussten, dass ihre Handlungsspielräume nach wie vor beschränkt blieben. Das letzte Kapitel untersucht das Verhalten der Arbeiterschaft innerhalb und außerhalb von Brigaden. Im Gegensatz zu Alf Lüdtke, der das Konzept des "Eigensinns" maßgeblich geprägt hat, führt Vietzke den schwammigen Begriff "der neuen Eigensinnigkeit" in die Diskussion ein. Er will damit deutlich machen, dass die Abgrenzung nur "zwischen einer klar definierten, kleinen Gruppe und den Außenstehenden" verlaufen sei (245). Die Bezugspunkte des Gemeinschaftsgefühls beschränkten sich seiner Meinung nach auf die nächste Umgebung jedes Einzelnen. Ob sich damit allerdings das Arbeiterverhalten hinreichend erklären lässt, bleibt fraglich.
Vietzke hat eine klar gegliederte und gut lesbare Studie vorgelegt, die sich aber auf einen relativ kurzen Untersuchungszeitraum konzentriert. Zu gerne hätte man anhand der Mikrostudien erfahren, ob sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und insbesondere der 1970er Jahre Brüche oder Kontinuitäten feststellen lassen. Interessant sind im Übrigen noch seine Ausführungen zum Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und "Intelligenz", das insgesamt gesehen distanziert und spannungsreich blieb. In seinem Schlussteil resümiert der Autor, dass es in den drei Betrieben kaum spektakuläre Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Betriebsgruppen gegeben habe. Stattdessen konstatiert er ein keineswegs stabiles Bündnis zwischen Arbeiterschaft und unteren Funktionären gegenüber höheren Ebenen von Partei und Staat. Dadurch habe sich der "Zusammenhalt der Arbeiterschaft als Ganzes und ihre Gegnerschaft zum Betrieb" verringert (259). Diese Entwicklung sei wiederum durch die flächendeckende Einführung der sozialistischen Brigaden beschleunigt worden.
Dierk Hoffmann