Kerstin Seidel: Freunde und Verwandte. Soziale Beziehungen in einer spätmittelalterlichen Stadt (= Campus Historische Studien; Bd. 49), Frankfurt/M.: Campus 2009, 350 S., ISBN 978-3-593-38903-5, EUR 39,90
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Einer der ältesten Gegenstände historischer Reflexion, die Verwandtschaft, erlebt in den letzten Jahren in der Mittelalterforschung eine bemerkenswerte Konjunktur. Dieses Interesse ist heutzutage, wo die Familie kein ganz selbstverständlich tragendes Bauelement der Gesellschaft mehr sind, nicht mehr länger ein unreflektiert genealogisches. Vielmehr geht es darum, die Bedeutung dieser wie auch alternativer sozialer Beziehungsformen für das Funktionieren vormoderner Gesellschaften genauer zu bestimmen.
"Freunde und Verwandte", "frunde und magen" (dazu insbes. 214ff.): Kerstin Seidel unternimmt in ihrer Göttinger Dissertationsschrift eine vergleichende Untersuchung beider Beziehungskategorien am Beispiel der Stadt Köln. Ihr Hauptaugenmerk gilt hierbei - in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen Dominanz der Kultur- gegenüber der Sozialgeschichte - "zeitgenössische(n) Wahrnehmungen und Bewertungen" (20), und nicht konkreten Ausprägungen von Verwandtschafts- oder Freundschaftsnetzwerken. Damit besitzt die Untersuchung freilich einen blinden Fleck, denn nach Überzeugung des Rezensenten ist die Bedeutung der genannten sozialen Bindungen ohne Kenntnis der konkreten Verflechtungstatbestände nur unzureichend zu erfassen. So bleibt Seidels Studie etwas zu sehr an der Oberfläche der Quellenaussagen kleben. Hätte hier Köln (jedenfalls vor dem Einsturz des Stadtarchivs) nicht vielleicht doch noch mehr zu bieten gehabt?
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse von normativen Quellen, Testamenten und (sporadisch erhaltenen) Familienbüchern. Schon das Ratsschriftgut liefert klare Indizien für die zentrale Bedeutung der Familie als Strukturelement der städtischen Gesellschaft. Die Verwandtenkreise bildeten "nahezu rechtsfreie Räume, in die der Rat nicht 'hineinregulierte'" (45) und in denen Aushandlungsprozesse ganz überwiegend intern erfolgten. Dasselbe zeigt sich bei den Testamenten, in denen die Verwandtschaft ganz übermächtig erscheint - sowohl im Erbrecht, als auch bei der Wahl der Grabstätte und bei der Memoria. Verwunderlich ist dies freilich nicht, und somit ist es eher von Interesse, zu sehen, wie weit der Kreis der Verwandten in den Quellen gezogen wird. Auch hier ist der Befund eindeutig: Überall dominiert die Kernfamilie, der Blick reicht nirgends (oder nur sehr selten) über die nächsten Seiten- und Schwiegerverwandten hinaus. Es ist dies ein Ergebnis, das durch die ganze Arbeit hindurch immer wieder Bestätigung findet - im Grunde also ganz "moderne" Verhältnisse, die ausweislich anderer Studien offenbar als mittelalterlicher Normalzustand angesehen werden müssen.
Reizvoll sind Seidels Beobachtungen zu einem Phänomen, das auf den ersten Blick ein Charakteristikum der Moderne zu sein scheint: die "Patchwork-Familie" (264). Ursächlich für ihr häufiges Auftreten war die hohe Mortalität und daraus folgende Wiederverheiratungen. Dass dies an das Beziehungskonzept Ehe und Familie große Anforderungen stellte, liegt auf der Hand - man denke etwa nur an die sich hier ergebenden besitzrechtlichen Fragen. So beschreibt Seidel einen Fall, wie durch eine komplizierte Erbregelung der Übergang des "familiäre(n) Erbe(s) an nicht-blutsverwandte Personen" verhindert werden sollte (91). Auch die in den Quellen oft nur formelhaft zu greifende affektiv-emotionale Dimension ist zu bedenken, etwa wenn ein wiederverheirateter Mann sein Begräbnis an der Seite seiner ersten Frau wünschte (66f.). Gar nicht zu reden von den klassischen Stiefeltern- und Stiefgeschwisterszenarien, von denen freilich einschlägige Märchen einen anschaulicheren Eindruck vermitteln als das Kölner Material (zur scheinbar eher geringen Konfliktanfälligkeit der mittelalterlichen Familien siehe etwa 239-244 und 258).
Die von Seidel weiter herangezogenen Familienbücher des Johann Slosgin, Werner Overstolz und Hermann von Weinsberg gewähren eine Fülle interessanter Einblicke in stadtkölnische Familien und ihre weiteren Beziehungsnetze (Gevattern, Nachbarn) im 15.-16. Jahrhundert. Sie lassen aber zugleich doch auch viele Fragen offen und liefern eine oftmals eben doch nur sehr selektive (und hierin offenbar als ausreichend empfundene) "Kartierung sozialer Verhältnisse" (142). Deutlich wird auch in ihnen das außerordentliche Gewicht verwandtschaftlicher Bindungen, wobei das Overstolz'sche Familienbuch ein adliges Geschlechterbewusstsein dokumentiert, während die Weinsberg-Chronik mit dem skurrilen Phantasieprodukt einer großen Familientradition aufwartet, das freilich eher für die Kauzigkeit des Verfassers als für irgendetwas anderes spricht.
Anders als die Verwandtschaft, erweist sich die Freundschaft als ein von Seidel nur schwer zu greifendes Phänomen. Dass es affektive Bindungen auch zu Nicht-Verwandten gegeben hat, kann eigentlich nur vermutet werden, da die durchaus vorhandene Rhetorik von freundschaftlicher Liebe oft unter den begründeten Verdacht gestellt werden muss, bloß formelhaft und appellativ zu sein. Da es Seidel aber um mehr geht, als um den Nachweis rein pragmatischer Do ut des-Beziehungen, versucht sie eine "Clusteranalyse freundschaftlicher Verhaltensweisen" nach dem Vorbild der Verhaltensbiologie (283ff.): Die Häufung von für sich genommen uneindeutigen, tendenziell aber freundschaftlichen Verhaltenselementen soll das Bestehen einer affirmativen Beziehung zwischen zwei Individuen belegen. Dieses Verfahren wendet Seidel auf Exponenten zweier städtischer Bevölkerungsgruppen an, der Gelehrten und der Kaufleute. Sie geht dabei von der Prämisse aus, dass für beide Gruppen aufgrund ihres weiteren sozialen Horizonts nicht-verwandtschaftliche Bindungen von größerer Bedeutung gewesen sein müssen. So kam es bei Kaufleuten darauf an, ausgreifende Handelspartnerschaften vertrauenssichernd durch Freundschaften zu untermauern. Und innerhalb der "Gelehrtenrepublik" vermittelten Freundschaften fachliche Anerkennung, intellektuellen Austausch und konkrete Karrierechancen. Als ein besonderes Spezifikum dieser Freundschaften kann dabei die "Übertragbarkeit" derselben (über Empfehlungen an Dritte aber auch in Form von "Vererbung") gelten, welches den primär funktionalen Aspekt dieser Beziehungsform unterstreicht.
Hier eröffnet sich ein weites und spannendes Untersuchungsfeld, das freilich von Seidel nur sehr unvollständig abgeschritten wird. Ihre diesbezüglichen Eindrücke sind denn auch allenfalls impressionistisch zu nennen. Dies ist mit der Quellensituation zwar durchaus zu begründen, freilich erscheint unter solchen Umständen der Anspruch ihres Buches, Freundschaft vergleichend zur Verwandtschaft zu behandeln, überzogen. So ist das wichtigste Ergebnis die freilich nicht neue Einsicht, dass Verwandtschaft gegenüber der Freundschaft die weitaus intensivere Bindungsform war. Die spezifischen Vor- und Nachteile freundschaftlicher Bindungen - in der Netzwerkanalyse spricht man hier von weak ties im Gegensatz zu den strong ties der Verwandtschaft - bleiben hingegen weitgehend im Dunkeln.
Robert Gramsch