Lev Mordechai Thoma / Sven Limbeck (Hgg.): "Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle". Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Ostfildern: Thorbecke 2009, 272 S., ISBN 978-3-7995-0223-8, EUR 34,90
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Der von Lev Mordechai Thoma und Sven Limbeck herausgegebene Sammelband publiziert mit den Beiträgen von Christine Reinle, Klaus van Eickels, Andreas Krass, Sven Limbeck, Helmut Puff und Markus Wesche sechs der insgesamt acht Vorträge der Tagung "Sodomie zwischen 1200 und 1600", die 2006 an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München stattfand. Sie werden durch Aufsätze von Admiel Kosman, Albrecht Diem, Wolfram Schneider-Lastin/Helmut Puff und Lev Mordechai Thoma sowie durch eine angehängte Auswahlbibliographie zur Homosexualität im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ergänzt. Die Entscheidung zu einer eigentlich anachronistischen Indienstnahme des modernen Begriffs 'Homosexualität' im Untertitel des Bandes wird damit begründet, dass "das gesamte kulturelle Spektrum von Homosozialität, Homoerotik und Homosexualität in Mittelalter und früher Neuzeit" allein mit den zeitgenössischen Vorstellungen von Sodomie und 'widernatürlicher Sünde' nicht zu erfassen sei und dass "die Frage nach der Historizität mann-männlicher Sexualität das verbindende erkenntnisleitende Interesse" sämtlicher Arbeiten darstelle (10).
Eine zentrale, von allen Beiträgerinnen und Beiträgern in der einen oder anderen Weise aufgegriffene These geht davon aus, dass sich im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts ein paradigmatischer Wechsel im Umgang mit männlicher Homosozialität vollzog. Im Mittelalter war sie lange Zeit das dominante Modell der Allianzbildung. Wie Albrecht Diem zeigt, lässt sich das vormoderne Verständnis mann-männlicher Beziehungen aber nicht anhand der modernen Kategorien von Homosexualität und Heterosexualität beurteilen. Dem entsprechend sei das im Tristanroman des Gottfried von Straßburg thematisierte, auf gegenseitiger Affinität beruhende und einer ehelichen Gemeinschaft ähnelnde Verhältnis zwischen König Marke und seinem Neffen Tristan nicht als eine homoerotische Züge tragende Gemeinschaft, sondern als eine formalisierte Männerfreundschaft zu verstehen, die in der höfischen Welt des europäischen Mittelalters durchaus üblich war und von den Zeitgenossen nicht mit einer pejorativ wahrgenommenen Neigung zu homosexuellem Verhalten assoziiert wurde. Von einem solchen vormodernen Verständnis ausgehend ist zu fragen, ob die von Markus Wesche postulierte homoerotische Liebesbeziehung zweier Männer zu dem jungen Sieneser Adligen Alessandro Cinuzzi im Kontext mittelalterlicher Freundschaftsdiskurse nicht eher als ein idealisiertes und dichterisch überhöhtes homosoziales Bündnis zu verstehen ist, dessen vermeintlich erotisch-sexuelle Dimension lediglich Ausdruck freundschaftlicher Intimität war.
Andreas Kraß zufolge entwickelte sich im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts die heterosexuelle Liebe zum dominanten Code der Intimität. In der Folge habe sich ein Dispositiv der Sodomie etabliert, welches als historischer Vorläufer des neuzeitlichen Sexualdispositivs und damit auch des modernen Homosexualitätskonzepts gelten könne. Erstmals sei die bislang irrelevante Frage aufgekommen, wie sich das lange Zeit vorherrschende Beziehungsmodell der Männerfreundschaft von der Sodomie als sexuellem Verkehr zwischen Männern abgrenzen ließ.
Diese Entwicklung kann auch als Voraussetzung für die Entstehung einer von Helmut Puff besprochenen Zeichnung Albrecht Dürers aus dem Jahr 1494 betrachtet werden. Der thrakische Königssohn Orpheus erscheint hier als Urheber der Sodomie, der wegen seiner päderastischen Neigungen von zwei thrakischen Frauen erschlagen wird. Puff ist der Ansicht, in der Tötungsszene klinge das moderne Konzept der Homosexualität an. Indem Orpheus für seine Jünglingsliebe dieselbe Ausschließlichkeit beanspruchte, die er zuvor auch für seine Liebe zu Eurydike in Anspruch genommen hatte, zog er sich den Tod bringenden Zorn der zurückgewiesenen Frauen zu.
Der These von der Etablierung eines Dispositivs der Sodomie folgend konstatieren sowohl Christine Reinle als auch Wolfram Schneider-Lastin und Helmut Puff, dass es im christlichen Mittel- und Westeuropa erst seit dem 13. Jahrhundert zu einer Kriminalisierung der 'Sünde wider die Natur' kam. Durch die Verbindung mit dem Ketzereimotiv fand das geistliche peccatum nun als sanktioniertes profanes crimen auch Eingang ins weltliche Recht.
Klaus van Eickels zeigt, dass der Vorwurf der widernatürlichen Unzucht auch zur pejorativen Charakterisierung Andersgläubiger dienen konnte. So konstruierte die mittelalterliche Kreuzzugshistoriographie den Sarazenen als sexuell zügellosen und daher 'schlechten Anderen'. Den Chronisten zufolge hatte der Prophet jegliche, auch gleichgeschlechtliche Unzucht freigegeben. Dem sexuellen Verkehr mit Sarazenen wurde eine besonders enthemmende Wirkung zugeschrieben. Vergewaltigung durch Ungläubige galt daher nicht als traumatisierendes, sondern als stimulierendes Erlebnis. Die Verteidigung des Heiligen Landes hing dieser Sicht nach nicht nur von einer erfolgreichen militärischen Abwehr muslimischer Angreifer, sondern auch von der öffentlich inszenierten Bereitschaft ab, den fleischlichen Versuchungen durch die hetero- wie homosexuell attraktiven Sarazenen und Sarazeninnen zu widerstehen.
Wie Lev Mordechai Thoma erläutert, war die ostentativ demonstrierte Abkehr von einem sündhaften Dasein hin zu einem christlichen, allen weltlichen Versuchungen entsagenden Lebenswandel zwecks der Restituierung von Tugendhaftigkeit, Reinheit und göttlicher Gnade auch Gegenstand der spätmittelalterlichen Predigttradition. Laut Sven Limbeck galten die Missbildungen vermeintlicher anthropo-theriomorpher Wundergeburten aus vormoderner Perspektive als mahnende Prodigien, in denen die göttliche Ablehnung gegenüber einem den christlichen Moralvorstellungen zuwiderlaufenden sodomitischen Sexualverhalten zum Ausdruck kam. Zeitgenossen befürchteten, dass die Missachtung solcher Vorzeichen ähnlich wie in der alttestamentlichen Zerstörung der Städte Sodom und Gomorrha verheerende Konsequenzen nach sich zog.
Admiel Kosman betrachtet das Phänomen der Homosexualität in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht aus christlicher, sondern aus halachisch-jüdischer Perspektive. Im 12. und 13. Jahrhundert vollzog sich ähnlich wie im weltlichen christlichen Recht auch in der mittelalterlichen Halacha ein paradigmatischer Wechsel im Umgang mit gleichgeschlechtlicher Soziabilität. Im Gegensatz zur 'lockereren' Sichtweise früherer Zeiten setzte sich jetzt die Auffassung durch, weibliche wie männliche Homosexualität wäre ebenso wie Bestialität als eine "die Schranken der Natur" (159) überschreitende 'Abscheulichkeit' zu bewerten und zu sanktionieren.
Der Sammelband bietet eine facettenreiche Sammlung von Detailstudien, deren Überzeugungskraft insbesondere in dem Versuch liegt, zeitgenössische Handlungs- und Wahrnehmungskriterien in den Fokus zu rücken. Diese Perspektive ist jedoch nicht in allen Beiträgen konsequent durchgehalten. So stellt sich die Frage, ob die Anwendung einer der modernen Psychologie entlehnten Terminologie ("paranoid[e] Logik der Homophobie" (129), "homophobe[s] Phantasma" (130)) auf mittelalterliche Verhältnisse oder die aufklärerisch anmutende Annahme, die christliche mittelalterliche Gesellschaft sei von einer Art "religiöser Distanzierung" (42) geprägt gewesen, tatsächlich historische Erkenntnis fördern. Dennoch gibt der Band insgesamt einen guten Einblick in die Vielfalt der Aspekte einer in der deutschen Mittelalterforschung trotz der Beiträge von Bernd-Ulrich Hergemöller und anderen bislang zu wenig berücksichtigten Fragestellung.
Heiko Hiltmann