Susanne zur Nieden (Hg.): Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945 (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 46), Frankfurt/M.: Campus 2005, 308 S., ISBN 978-3-593-37749-0, EUR 24,90
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Die Herausgeberin hat in den vergangenen Jahren im Rahmen eines DFG-Projektes das Phänomen des Konstrukts vom "homosexuellen Staatsfeind" untersucht und sowohl eigene Forschungsergebnisse als auch Studien von Kollegen in dem vorliegenden Sammelband vereint. Das Buch ist in zwei Abschnitte unterteilt, sieben Aufsätze sind den Jahren 1900 bis 1933, vier weitere der Zeit des "Dritten Reiches" gewidmet.
Die Herausgeberin sowie die Autorinnen und Autoren Claudia Bruns, Marita Keilson-Lauritz, Harry Oosterhuis und Anson Rabinbach behandeln im ersten Teil des Werkes die grundsätzlichen Zusammenhänge von Homophobie und Staatsapparat in Deutschland vor 1933 sowie die Entwicklung des Feindbildes vom "gefährlichen Homosexuellen" in der Eulenburg-Affäre, den Wirrungen der Homosexuellenemanzipation und dem Skandal um die Sexualität des SA-Führers Ernst Röhm. Abgerundet wird diese Sektion des Buches durch eine Untersuchung zu den Zusammenhängen von Politik und Homoerotik im Werk von Thomas und Klaus Mann. Der Beitrag von Anson Rabinbach über die Kampagnen deutscher Exilanten gegen die "homosexuelle SA" im Zusammenhang mit den Diskussionen über den Reichstagsbrand leitet zum zweiten Teil des Sammelbandes über.
Hier schildern die durchwegs männlichen Autoren die Steigerung der Bekämpfung der (männlichen) Homosexualität im Laufe des "Dritten Reiches". Neben einer Überblicksdarstellung gibt es Detailstudien zu den Verhältnissen innerhalb der Hitlerjugend und im Rahmen der Prozesse gegen katholische Ordensangehörige. Abschließend wird die Strafwürdigkeit von Unterstellungen homosexueller Neigungen im "Dritten Reich" beleuchtet.
Die Autorinnen und Autoren schlagen so scheinbar einen Bogen von den ersten homosexuellen Skandalen im zweiten deutschen Kaiserreich bis hin zum Versuch der flächendeckenden Bekämpfung jeder Form männlicher Homosexualität im "Dritten Reich". Dies geschah stets unter der Prämisse, durch die Ausschaltung der Homosexuellen den Staat an sich stärken zu können.
Dieser Eindruck trügt jedoch. Zwar sind die Überblicksdarstellungen in dem vorliegenden Sammelband zweifellos gelungen, doch wirklich neue Erkenntnisse vermitteln nur in Teilen die Ausführungen von Wolfgang Dierker zu den Prozessen gegen katholische Ordensangehörige und von Bernward Dörner zur Problematik der üblen Nachrede. Hinzu kommen die Einarbeitungen neuer Quellen in den Beiträgen von Andreas Pretzel zur Radikalisierung der Homosexuellenverfolgung im Laufe des "Dritten Reiches" und Anson Rabinbachs zu den Hintergründen der "Braunbuch"-Debatten in der deutschen Exilgemeinde. Die Inhalte der übrigen Aufsätze stellen lediglich eine Zusammenfassung von bereits bekannten Tatsachen dar. Dies drückt sich auch durch den eklatanten Mangel an Quellen in mehreren Beiträgen aus. Hinzu kommen grundsätzliche Probleme einzelner Aufsätze.
So werden vom Leser bisweilen umfassende Vorkenntnisse in der Terminologie der verschiedenen homosexuellen Emanzipationsbewegungen erwartet (z. B. "Tuntenstreit"). Außerdem fehlt jeder Hinweis auf die weibliche Homosexualität. Wenn männliche Sexualdeviationen in den Augen vieler Zeitgenossen eine Verweiblichung implizierten und damit eine Degeneration des männlichen Staates provozierte, wie reagierten dieselben Personen dann auf die "Gefahr" durch "vermännlichte" Frauen?
Schließlich erscheint es erstaunlich, dass die Entwicklung des medizinischen Homosexuellenbildes, das Befürwortern und Gegnern der homosexuellen Emanzipation von 1900 bis 1945 als Orientierung diente, in dem vorliegenden Band nahezu völlig ausgespart wird. Am auffälligsten ist aber, dass die Diskussionen innerhalb von rein männlich dominierten, für das Staatsverständnis des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des "Dritten Reiches" wichtigen Institutionen überhaupt nicht thematisiert werden. Weder die Diskurse innerhalb der Studentenbewegung rund um Hans Blüher noch die Propaganda religiös gebundener Sittlichkeitsvereine noch die Thematisierung der Homosexualität in der "patriotischen" Literatur finden Erwähnung. Hier wären tatsächlich neuartige Forschungen möglich und zugleich notwendig gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass die Herausgeberin im Rahmen ihrer DFG-Studien noch entsprechende Studien präsentieren wird.
Insgesamt ist zu sagen, dass der von Susanne zur Nieden verantwortete Sammelband zwar eine ganze Reihe gut geschriebener Aufsätze enthält, diese aber neue Erkenntnisse nur zu geringen Teilen enthalten. Das Buch bietet einen Überblick über bereits erforschte Zusammenhänge, mehr aber auch nicht.
Florian Mildenberger