Florian Mildenberger: "... in der Richtung der Homosexualität verdorben.". Psychiater, Kriminalspychologen und Gerichtsmediziner über männliche Homosexualität 1850-1970 (= Bibliothek rosa Winkel; Bd. 1), Hamburg: Männerschwarm Verlag 2002, 512 S., ISBN 978-3-935596-15-2, EUR 32,00
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Florian Mildenbergs Buch "...in der Richtung der Homosexualität verdorben" präsentiert sich als ein umfassendes Überblickswerk zur Geschichte psychiatrischer Deutungen mannmännlicher Sexualität in Deutschland und Österreich. Die Monografie basiert auf einer umfassenden Auswertung einschlägiger Fachpublikationen, ergänzt durch Recherchen in diversen internationalen Archiven, deren Ergebnisse nicht immer einsichtig werden lassen, ob dieser Aufwand berechtigt war.
"Sexualität" war und ist einer der zentralen symbolischen Codes moderner Gesellschaften, weil angenommen wird, sie sei einer ihrer zentralen Funktionen. Umstritten war und ist, ob Sex dabei im Interesse von Staats und Gesellschaft primär fremdbestimmt oder gemäß der persönlichen Verantwortlichkeit der Subjekte selbstbestimmt ablaufen solle. In diesem "biopolitischen" Diskursfeld war eine wissenschaftliche Zuständigkeit der Psychiatrie für das Thema nie eindeutig gegeben, sondern konkurrierte über die Zeit hinweg mit der Theologie, Philosophie, Biologie, Physiologie, Psychologie, Soziologie, Politik und Strafrechtslehre.
Mildenbergers Darstellung bestätigt die bekannte, auf Michel Foucault zurückgehende Annahme, dass mit dem Bedeutungsverlust der Religion und im Zusammenhang mit der Frage, ob mannmännliche Sexualität strafwürdig sei, rationalistische Deutungen an Inhalt, Bedeutung und Umfang zunahmen. Nach Foucault wurden in diesem weltgeschichtlichen Prozess traditionale durch intensivierte rationalistische Ordnungen verdrängt, und eine "Disziplinargesellschaft" formierte sich. Hierzu werden von Mildenberger viele, sicherlich auch Fachleuten zuvor unbekannte Texte herangezogen.
Doch vermittelt Mildenberg in seinem Buch hinsichtlich der wirkungsgeschichtlich und in ihren sozialen Auswirkungen bedeutsamen Quellen wenig neue Einsichten: Homosexualität wurde im Deutschen Reich durch §175 mit Strafe bedroht, wenn sie "beischlafähnliche" Züge trug. Um diese Rechtssetzung entspann sich eine ausufernde Debatte, in der viele Psychiater tendenziell die Strafunmündigkeit "der Homosexuellen" bestätigten, diese aber - entgegen der von den Betroffenen präferierten Selbstzuschreibung - für pathologische Naturen erklärten (34-108). Schon vor 1933 wandten sich degenerationstheoretisch und "kriminalbiologisch" ausgerichtete Psychiater energisch gegen diese liberale Haltung und forderten im Sinne der "Rassenhygiene" strenge Bestrafung und vorsorgliche Sterilisation der Betroffenen (109-155). In den ersten Jahren des Nationalsozialismus konnten sich Psychiater erfolgreich als ideologische und politische Speerspitze des neuen Staates präsentieren, danach scheint das nationalsozialistische System ihre Mitarbeit weniger dringend benötigt zu haben, mit einer bedeutsamen Ausnahme: der T4-Aktion (156-315). So war der Nationalsozialismus beispielsweise an ätiologischen Aussagen zur Homosexualität wenig interessiert, demgegenüber dominierte ein auf 'Härte' ausgerichteter juridisch-therapeutischer Aktionismus etwa in Gestalt der auch nach damaligem Kenntnisstand medizinisch sinnlosen Kastration.
Während dieser Zeit versuchte sich der Psychiater Theobald Lang am Kaiser-Wilhelm-Institut in München unter der Leitung von Ernst Rüdin als Experte für das Thema zu etablieren (184-216), was weitgehend erfolglos blieb. Zu Langs Vita liefert das Buch eindrucksvolle neue Erkenntnisse, wobei anzumerken ist, dass Lang als Forscher eklektisch war und für die weitere Geschichte der Sexualwissenschaft ohne nennenswerte Nachwirkung blieb.
Die Lage der Psychiatrie nach 1945 war durch die unzulängliche Auseinandersetzung mit den Verstrickungen im Nationalsozialismus geprägt, was (mit-)bedingte, dass die deutsche Psychiatrie national und international stark an Bedeutung und Ansehen verlor (316-349). Das intellektuelle Zentrum der Sexualforschung verlagerte sich spätestens mit den Kinsey-Reports in die USA, und bei der Interpretation gesellschaftlicher Probleme wurden soziologische Theorien immer populärer. Neue Relevanz erlangte die psychiatrische Diskussion erst, als nach 1970 diese beiden Einflüsse nachhaltig aufgegriffen wurden, eine Entwicklung, für die in Deutschland zum Beispiel der Name Volkmar Sigusch steht.
Innerhalb dieser Darstellung beschränkt Mildenberger seine Ausführungen auf die Nachzeichnung der Filiation von psychiatrisch einschlägigen Texten, in die ad hoc anderweitige wissenschaftliche oder soziale Ereignisse 'von außen' eingeflochten werden. Die Absicht hinter dieser Beschränkung sei darin zu suchen, die Studie nicht einem "unsicheren und sich ständig wandelnden Theoriemuster zu unterwerfen" (20). Doch gilt es zu bedenken: Jede Beobachtung ist durch theoretische Vorannahmen imprägniert, und so selbstverständlich auch Mildenbergers Darstellung.
Angemessen und von den Ergebnissen her innovativ wirkt die Darstellung auf den Rezensenten am ehesten für den Nationalsozialismus, da Mildenbergers implizite theoretische Vorannahmen (die natürlich doch existieren: Psychiatrie gefalle sich in der Rolle eines gesellschaftlich autonomen Expertentums und sei doch in Wahrheit Erfüllungsgehilfin für Kontroll- und Strafintentionen der Staates), in den frühen Jahren des Regimes durchaus zutrafen. Diese spezielle Merkmalsanordnung war jedoch sonst weder vor 1933 noch nach 1945 so gegeben.
Der gesellschaftliche Ort der Psychiatrie bleibt in der Arbeit recht unbestimmt: Was waren ihre Ziele im Verhältnis gegenüber den Patienten: Hilfe oder Kontrolle? War die Psychiatrie überhaupt ein geschlossenes System, wie das Buch suggeriert? Und was heißt eigentlich "Psychiatrie"? Im Buch wird ein einheitlicher professioneller Habitus konstruiert, der über Studium, Promotion, Assistenzzeit, Facharztausbildung, Habilitation, ärztliche oder wissenschaftliche Praxis immer gleichartig adaptiert worden sein soll. Für wissenschaftsgeschichtlich Interessierte werden die Kurzbiografien in Fußnoten, die über das Register erschließbar sind, ein dankbar aufgenommenes Hilfsmittel sein. Auf den Rezensenten wirkt diese kategoriale Vergleichbarkeit über ein ganzes Jahrhundert hinweg kaum glaubhaft: Heutige Vertreter des Faches werden die Zumutung mit Sicherheit zurückweisen, aufgrund ihrer Facharztausbildung mit T4-Ärzten wie Carl Schneider oder Kurt Pohlisch verglichen zu werden - schon weil stattdessen ihr berufliches Selbstverständnis zentral auf der Diskontinuität zur NS-Psychiatrie gründet. Noch dazu waren viele einflussreiche Autoren, über die Mildenberger schreibt, gar keine "Psychiater": Steinach war Endokrinologe, von Verschuer, Goldschmitt und Kinsey waren Biologen (Letztere beide mit dem Schwerpunkt Entomologie); kurz: Sexualwissenschaft war und ist gar keine psychiatrische Domäne, wie das Buch vermitteln möchte. Im Gegenteil waren vor allem die ätiologischen Deutungen, die erst an das psychiatrische Therapieren denken ließen, sekundär.
Mit dieser Herangehensweise wird kein fundierter Einblick vermittelt in die wirklich 'großen', weil wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Theorien (ich denke an Ulrichs, Krafft-Ebing, Hirschfeld, Freud, Blüher, Kinsey) [1] oder in die Denkstile, die das Thema Homosexualität seit dem späten 19. Jahrhundert entscheidend geprägt haben: die strafrechtliche Fiktion vom freien Willen, der alle Handlungen und damit auch sexuelle Handlungen bestimmt, die komplementäre Figur des Angeboren-Seins, die Geschichten aus dem frühkindlichen Milieu, die Warnungen vor der Verführung im Jugendalter, die politischen Forderungen nach Ausrottung versus Akzeptanz. Es wäre wichtig gewesen, auf diese generellen Muster näher einzugehen, weil sie (fast) nie in Reinform vorkamen, sondern aufgrund der der Psychiatrie zugeschriebenen gesellschaftlichen Aufgaben meistens eklektisch vermischt auftraten: Zu erläutern, wie und in welchem Verhältnis dies geschah, hätte es ermöglicht, in das vermeintlich chaotische Vorsichhinsprudeln der Quellen eine Ordnung zu bringen.
Fazit: Es wird ein umfassender, quellengestützter Überblick zu psychiatrischen Äußerungen über Ursachen, Erscheinungsformen und soziale Folgen mannmännlicher Sexualität geboten. Dass das Buch dabei unkritisch bleiben muss - wobei sich der Rezensent nach der Lektüre nichts anderes vorstellen kann, als dass es eigentlich kritisch sein will -, erweist sich vor allem an jenem Punkt, an dem sich der Gegenstandbereich der Psychiatrie von dem manch anderer Wissenschaft unterscheidet: im erkenntnistheoretischen Parallelismus von Subjekt und Objekt. "Die Homosexuellen" spielten als Persönlichkeiten, Sprecher und Informanten von Anfang an eine zentrale Rolle für die Formulierung wissenschaftlicher Aussagen über sie, wie dies in den Schriften von Westphal, Krafft-Ebing, Hirschfeld, Kinsey explizit berichtet wird. Psychiatriegeschichte im Sinne Mildenbergers reduziert sie dagegen auf sprachlose Objekte und ewige Opfer. Das wirkt wissenschafts- wie sozialgeschichtlich irritierend und umso erstaunlicher, als die Rückwirkungen psychiatrischer Deutungsmuster auf das Erleben der Betroffenen und vice versa im gegebenen Kontext inzwischen breit diskutiert werden. [2]
Anmerkungen:
[1] Ergänzend wäre für einen solchen Überblick heranzuziehen: Rüdiger Lautmann (Hg.): Homosexualität, Handbuch der Theorie und Forschungsgeschichte, Frankfurt am Main / New York 1993.
[2] Für die 'queer-studies' ist die 'Identitäts'-Problematik zentral geworden, die symbolische und soziale Interaktion von Betroffenen, Verfolgern und "Experten" breit diskutiert; nur einige Arbeiten aus diesem Kontext: Henning Bech: When men meet. Homosexuality and modernity, Cambridge 1997; Jens Dobler (Hg.): Schwule, Lesben, Polizei. Vom Zwangsverhältnis zur Zweckehe?, Berlin 1996; Harry Oosterhuis: Stepchildren of nature. Krafft-Ebing, Psychiatry and the Making of Sexual Identity, Chicago / London 2000; Volker Weiß: Wißbegierde und Erkenntniszwang. Die Formierung der sexuellen Identität, Pfaffenweiler 1993.
Tilmann Walter