Florian Mildenberger: Umwelt als Vision. Leben und Werk Jakob von Uexkülls (1864-1944) (= Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte; Heft 56), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 320 S., ISBN 978-3-515-09111-4, EUR 56,00
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Als Urheber einer eigenständigen Umweltlehre ist Jakob von Uexküll den meisten Umwelthistorikern ein Begriff. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte er ein konstruktivistisches Umweltkonzept: Demnach habe jedes Lebewesen seine eigene Umwelt; ein Frosch nehme beispielsweise ganz andere Umweltmerkmale wahr als eine Fliege und wirke seinerseits auf ebenso individuelle Weise auf seine Umwelt ein. Auf dieses Konzept wird in der Umweltgeschichte gerne verwiesen, wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, dass "Umwelt" weder einen überzeitlichen Wert noch eine feststehende Größe bezeichnet, sondern ihre Wahrnehmung und Bewertung an bestimmte Personen oder Gruppen gebunden und insofern einer historischen Betrachtung zugänglich sind. [1] Den Wenigsten steht dabei vor Augen, wer dieser Jakob von Uexküll war und welchem wissenschaftlichen Kontext seine Umweltlehre entstammt.
Mit seiner Münchner Habilitationsschrift schafft Florian Mildenberger hier Abhilfe. Er rekonstruiert den Lebensweg Uexkülls sowie die Entstehung seiner Umweltlehre auf einer breiten Materialgrundlage, die er aus nicht weniger als 43 Bibliotheken und Archiven in neun verschiedenen Ländern zusammengetragen hat. Damit ergänzt die Arbeit die Reihe der jüngst erschienenen Wissenschaftlerbiografien um einen weiteren Beitrag. [2] Auffallend ist jedoch, dass Mildenberger an die Debatten über neue Ansätze der Personengeschichte nicht anknüpft. [3] Ihn treibt vielmehr ein spezielles Erkenntnisinteresse: Die breite, aber häufig auch selektive oder irrige Rezeption Uexkülls in den unterschiedlichsten Wissenschaften, die dem Gesamtgebäude der Umweltlehre nicht gerecht werde und die Mildenberger auf eine neue Grundlage stellen möchte. Insbesondere kritisiert er die vorschnelle Einordnung Uexkülls in vorgeformte Geschichtsbilder, die die "Individualität der Protagonisten [...] vernachlässigen." (9) Statt der "scheinbaren Gesamtverhältnisse" (14) seien "konkrete Lebenswelten" (13), bzw. die "Individuen" in ihren "Umwelten" (12) zu erforschen. Damit grenzt sich Mildenberger explizit von Anne Harrington ab, die Jakob von Uexküll im Rahmen einer Kollektivbiografie in den Kontext ganzheitlich denkender Lebenswissenschaftler gestellt hat. [4] Mildenbergers Ziel besteht demgegenüber darin, die Eigenständigkeit des "letzte[n] bedeutende[n] Verfechters einer antidarwinistischen Biologie und Lebensphilosophie" (9) in einem überwiegend darwinistisch orientierten Umfeld zu erklären. Entsprechend ist die Arbeit streng chronologisch gegliedert. Sieben der insgesamt neun Kapitel widmen sich jeweils einem Lebensabschnitt Uexkülls, zwei weitere dem Fortwirken seiner Lehre.
Jakob von Uexküll entstammte einer baltendeutschen Adelsfamilie im heutigen Estland. Er studierte Zoologie an der der Universität Dorpat (heute: Tartu) und sympathisierte zunächst mit darwinistischen Ideen. In dem von Karl Ernst von Baer beeinflussten akademischen Milieu seiner Standesgenossen ließ er sich jedoch vom vitalistischen Weltbild überzeugen. Diese Positionierung hatte auch einen politischen Hintergrund, da der russische Nationalismus, der die Machtposition des deutschen Adels in Estland untergrub, mit sozialdarwinistischen Ideen assoziiert wurde. Durchgehend gewichtet Mildenberger die Bedeutung der baltendeutschen Identität Uexkülls für seinen wissenschaftlichen Werdegang höher als den Einfluss der biowissenschaftlichen Forschungskontroversen in Deutschland, in die er mit seiner Übersiedlung an die Universität Heidelberg 1891 geriet. Hier konnte er sich zunächst als experimentell arbeitender Physiologe etablieren. Seine erneute Hinwendung zum Vitalismus kostete ihn nach 1902 jedoch seine institutionelle Anbindung. Es folgten zwei Jahrzehnte ohne gesicherte Existenzgrundlage, die gleichwohl für die Ausformulierung seiner Lehre zentral waren. In dieser Zeit entwarf Uexküll sein subjektbetontes Umweltkonzept und ordnete es vitalistisch ein. So verstand er die Handlungsweisen der Individuen in ihren Umwelten als zweckgerichtet im Hinblick auf ein übergeordnetes Ganzes. Dieses Gedankengebäude übertrug er außerdem auf die Staatsphilosophie und bemühte sich, seine Ideen populärwissenschaftlich zu verbreiten. Erst 1924, im Alter von 60 Jahren, gelang es Uexküll, ein bescheidenes wissenschaftliches Institut an der Universität Hamburg aufzubauen. Hier konnte er die Praxistauglichkeit seiner Lehre unter anderem bei der Ausbildung von Blindenhunden unter Beweis stellen. Dieses Arbeitsgebiet sicherte auch während des Zweiten Weltkriegs den Fortbestand des Instituts für Umweltforschung, das unter Uexkülls Nachfolgern noch bis Ende der fünfziger Jahre überdauerte. Diese konnten jedoch keine eigenen Akzente in der Forschung mehr setzen. Eine wissenschaftliche Weiterentwicklung der Ideen Uexkülls fand anderswo statt, so insbesondere in der psychosomatischen Medizin und in der Semiotik. Resonanz fand die Umweltlehre außerdem in der Kybernetik, der Biologie, der Psychologie und der Ökologie, sowie in der in den 1970er Jahren entstehenden Umweltbewegung. Uexküll selbst hatte sich bereits 1938 von seinem Institut zurückgezogen und verbrachte seinen Lebensabend auf Capri, wo er kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag im Juli 1944 starb.
Mit seiner Arbeit gelingt es Mildenberger, die Umweltlehre umfassend in den biowissenschaftlichen Grundlagendebatten der Zeit zu verorten. Gleichzeitig entsteht das Porträt eines unbeugsamen und eigensinnigen Charakters, der tief in seinem Standesbewusstsein verwurzelt war und an seinen Überzeugungen auch um den Preis der institutionellen Isolation festhielt. Durch eine findige Quellenrecherche fördert Mildenberger zuvor unbekannte Einsichten über die Herleitung der Umweltlehre zutage. Wendepunkte im Denken Uexkülls werden überzeugend herausgearbeitet. Bemerkenswert ist außerdem die akribisch recherchierte Rekonstruktion der zeitgenössischen wie der posthumen Rezeption.
Allerdings ist die Darstellung nicht immer leicht zu lesen. So wird der Zugang zu diesen Ergebnissen dadurch erschwert, dass Mildenberger kaum analytische Breschen durch die hochkomplexe Materie schlägt. Der wissenschaftshistorisch ungeschulte Leser bleibt im Dickicht der Details schnell auf der Strecke, zumal zentrale Konzepte wie Vitalismus, Neovitalismus, Mechanismus, Darwinismus, Neodarwinismus etc. kaum erklärt werden. Darüber hinaus stehen die Bezugnahmen und Verweiszusammenhänge so sehr im Mittelpunkt der Untersuchung, dass der Inhalt der Umweltlehre in den Hintergrund tritt. Uexküll selbst kommt nur selten zu Wort. Die "Vision", die mit dem Umweltkonzept verbunden war und deren Darstellung im Titel angekündigt wird, bleibt dadurch blass.
Während Mildenberger den biowissenschaftlichen Sonderweg Uexkülls plausibel erläutert, stellt sich im Hinblick auf eine Gesamtwürdigung von Person und Lehre außerdem die Frage, ob die These von der geistigen Unabhängigkeit nicht überzeichnet ist. So scheint Uexkülls hervorragende gesellschaftliche Vernetzung das fehlende universitäre Umfeld in gewissem Maße kompensiert zu haben. Seine Kontakte reichten bis in kaiserliche Kreise; zeitweilig stand er im Austausch mit Rainer Maria Rilke, Hermann von Keyserling oder Fidus. Er ließ sich vom Antisemitismus eines Houston Stewart Chamberlain beeinflussen und modifizierte zeitweilig sogar seine Lehrmeinung unter dem Eindruck politischer Umbrüche. Dass Philosophen wie Helmuth Plessner und Ernst Cassirer sich von der Umweltlehre inspirieren ließen, ein Autor wie Alfred Döblin seine Romanfiguren in Anlehnung an das Umweltkonzept entwarf und die populärwissenschaftlichen Publikationen Uexkülls bis in Kunst und Architektur hineinwirkten, spricht weniger für dessen Außenseiterposition als dafür, dass die Umweltlehre den Nerv der Zeit getroffen hatte. So könnte Uexkülls eigener wissenschaftlicher Suchprozess auch als Teil einer geistigen Standortsuche seiner Zeit gedeutet werden, bei der das Verhältnis vom Individuum zum großen Ganzen und von Subjektivität und Objektivität Schlüsselthemen waren. Insgesamt hätte die Frage der Eigenständigkeit durch eine breitere Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes differenziert werden können. Der auf das Individuelle fixierte Ansatz Mildenbergers stößt hier an seine Grenzen.
Diesen Einwänden zum Trotz handelt es sich bei dieser Arbeit um eine umfassend recherchierte Dokumentation des Lebenswegs, der Forschungsaktivitäten und der Rezeption Uexkülls. Sie bildet damit ein Referenzwerk für jede weiterführende Beschäftigung mit Jakob von Uexküll und seiner Umweltlehre.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, 40.
[2] Vgl. exemplarisch Carola Dietze: Helmuth Plessner. Nachgeholtes Leben, Göttingen 2006; Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biografie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005; Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München [u.a.] 2005.
[3] Vgl. Thomas Etzemüller: Die Form "Biografie" als Modus der Geschichtsschreibung. Überlegungen zum Thema Biografie und Nationalsozialismus, in: Regionen im Nationalsozialismus, hg. von Michael Ruck, Bielefeld 2003, 71-90; Alexander Gallus: Biografik und Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/2005, 40-46.
[4] Anne Harrington: Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler, Princeton, NJ 1996.
Sabine Dworog