Florian Mildenberger: Allein unter Männern. Helene Stourzh-Anderle in ihrer Zeit (1890-1966) (= Frauen - Gesellschaft - Kritik; Bd. 42), Herbolzheim: Centaurus 2004, 129 S., ISBN 978-3-8255-0463-2, EUR 18,90
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Die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Faches stößt in der Frauenheilkunde - wie in der klinischen Medizin überhaupt - leider auf eher geringes Interesse. Man schätzt den Blick zurück meist nur als Epitheton ornans, wenn es historische Persönlichkeiten oder neue Errungenschaften zu feiern gilt. Auch die Medizingeschichte als institutionalisiertes Fach konnte der Gynäkologie bislang vergleichsweise wenig abgewinnen.
Jetzt hat Florian Mildenberger vom Institut für Geschichte der Medizin in München eine Studie vorgelegt, die in mehrfacher Hinsicht von großem Interesse ist. Die Arbeit untersucht die wissenschaftliche Leistung der österreichischen Gynäkologin, Sexualforscherin und Sexualpädagogin Helene Stourzh-Anderle (1890-1966). Besonders bemerkenswert ist, dass Stourzh-Anderle ihre wissenschaftliche Arbeit als niedergelassene Frauenärztin im außeruniversitären Raum geleistet hat. Mildenbergers Studie stellt somit einen Beitrag zu der noch jungen, geschlechterspezifischen Wissenschaftsgeschichte dar und trägt damit zur Erfüllung eines Desideratums bei, auf das vor einigen Jahren im Zusammenhang mit einem großen Forschungsprojekt über deutsche "Ärztinnen aus dem Kaiserreich" hingewiesen worden ist: die Erarbeitung von Fallstudien, die den wissenschaftlichen Kontext des Beitrags früher Ärztinnen zur Wissenschaft ebenso berücksichtigen wie die Besonderheiten des weiblichen Lebenszusammenhangs. [1]
Die Gliederung folgt der Intention des Autors, mehr das Werk als die Biografie seiner Protagonistin in den Vordergrund zu stellen. Schwerpunkte der in Wien arbeitenden Ärztin waren die sexuelle Aufklärung und Eheberatung, die Konstitutionsforschung und ihre Beziehung zur aufstrebenden Endokrinologie sowie die sexuelle Dysfunktion bei der Frau (Vaginismus, Anorgasmie). Diese drei Themenkomplexe werden von Mildenberger in drei großen Kapiteln abgehandelt. Diesen "Themen-Kapiteln" vorangestellt sind ein Vorwort, eine Einleitung sowie eine biografische Skizze über Helene Stourzh-Anderle. Am Ende des Buches finden sich ein kurzes Kapitel über die weitere Entwicklung in ihren Arbeitsgebieten nach ihrem Tod sowie eine knappe Schlussbetrachtung. Mehr als 30 der insgesamt 129 Seiten des Buches nimmt das Literaturverzeichnis ein, das neben einigen ungedruckten Quellen auch eine Bibliografie von Stourzh-Anderle mit rund 50 Titeln enthält.
Im Vorwort setzt sich Mildenberger mit einigen aktuellen Aspekten der Frauenforschung auseinander. Hier sieht er speziell für die geschlechterspezifische Wissenschaftsgeschichte gewisse Defizite, zu deren Ausgleich seine Arbeit beitragen soll. In der Einleitung werden dann Stourzh-Anderle, ihr soziokulturelles Umfeld sowie ihre beiden Hauptwerke "Sexuelle Konstitution. Psychopathie. Kriminalität. Genie" (1955) und "Die Anorgasmie der Frau" (1961) sowie deren Rezeption kurz vorgestellt. Ergebnisse seiner Untersuchung vorwegnehmend, bescheinigt Mildenberger der Protagonistin hier "die völlige Abkehr [...] von überkommenen Denkmustern" (11), muss aber gleichwohl konstatieren, dass einer langen Reihe positiver Rezensionen die "völlige Nichtbeachtung der Thesen der Autorin" folgte (8 f.).
Die biografische Skizze der Protagonistin "Ein Leben zwischen allen Stühlen" (13) beschreibt ihren beruflichen Werdegang in einem weitgehend antifeministischen Umfeld (Matura 1910, Promotion als Ärztin 1915, Fachausbildung für Frauenheilkunde an der II. Universitäts-Frauenklinik Wien bei Ernst Wertheim bis 1920). Anschließend praktizierte Helene Anderle, die 1928 den Lehrer und Publizisten Herbert v. Stourzh geheiratet hatte, mit einer kriegsbedingten Unterbrechung bis zu ihrem Ruhestand 1962 als niedergelassene Ärztin. Ob ihr Schritt in die Praxis erzwungen war oder ob sie mit dem Verzicht auf eine Universitätskarriere ihren eigenen Intentionen folgte, bleibt letztlich unklar.
Mildenberger zeigt, dass Stourzh-Anderle neben ihrer Praxis wissenschaftlich sehr aktiv blieb, obwohl sie nach dem frühen Tod ihres Mannes 1941 jahrelang auch allein erziehende Mutter war. Die Mehrzahl ihrer Publikationen - darunter die wichtigsten - entstand sogar erst nach 1945. In der Nachkriegszeit wurde die engagierte Medizinerin auch Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien und leitete zeitweise als erste Frau die wissenschaftlichen Versammlungen. 1953 rückte sie in den Vorstand der Organisation der Ärztinnen Österreichs auf.
Die Kapitel der Arbeit, die sich mit den Schwerpunkthemen der wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit von Helene Stourzh-Anderle beschäftigen, bieten eine fast überbordende Fülle von Detailinformationen zum medizinischen und soziokulturellen Kontext. Dies gilt in besonderem Maße für die Darstellung der unterschiedlichen, insgesamt aber vor allem repressiven Konzepte für die Sexualaufklärung in den ersten sechs Dekaden des vergangenen Jahrhunderts, denen die Frauenärztin schon 1925 ihre Empfehlung zu einer "unverkrampften Annäherung an die menschliche Sexualität" entgegensetzte (22). Viel Raum gewährt der Autor auch der Darstellung der Entwicklung der Konstitutionslehre und deren Verknüpfung mit der gynäkologischen Endokrinologie, die Ende der 1920er- und in den 1930er-Jahren einen großen Aufschwung nahm.
Die entscheidenden Arbeiten von Stourzh-Anderle werden dagegen so kurz abgehandelt, dass es für den Leser schwer ist, einen intensiveren Eindruck davon zu gewinnen. Sehr knapp fällt auch das Schlusswort aus, das in der Einleitung als Zusammenfassung und Versuch einer Wertung angekündigt wird.
Als medizinhistorisch interessierter Frauenarzt bleibt man nach der Lektüre der vorliegenden Arbeit in mehrfacher Hinsicht ambivalent zurück. Einerseits hat sich die eigene Perspektive auf das Fach erneut deutlich erweitert: Den schon aus neueren geisteswissenschaftlichen Arbeiten über die Geschichte der Geburtshilfe bekannten, teils frauenverachtenden, teils sogar frauenfeindlichen Tendenzen aus den Anfängen der akademischen Entbindungskunst [2] wird nun ein zweifellos ebenso bestürzender Blick auf die Geisteshaltung vieler Gynäkologen des 19. und 20. Jahrhunderts gegenüber ihren Patientinnen hinzugefügt. Dies macht ebenso nachdenklich wie die zitierten antifeministischen Standpunkte vieler Hochschullehrer.
Andererseits kommen aber auch Zweifel auf, ob das skizzierte Pandämonium, wenngleich in Details scheinbar gut belegt, die Vergangenheit tatsächlich zutreffend abbildet. Mit dem Anspruch unter anderem auf Darstellung des "Panorama[s] einer längst verdrängten Epoche der medizinischen Forschung" (9) hat sich der Verfasser viel vorgenommen - vielleicht zu viel. So mutet der als historischer Kontext zur Arbeit von Stourzh-Anderle dargestellte Teil der Endokrinologiegeschichte etwas willkürlich ausgewählt und teilweise auch inkohärent an. Nicht immer belegen die zitierten Quellen den Text; so ist beispielsweise noch unklar, wem die Isolierung des Progesterons zuerst gelungen ist. Auf keinen Fall aber kann man dem Chemiker (nicht: Arzt) Walter Hohlweg allein dieses Verdienst zusprechen (58).
An einigen Stellen der Arbeit entsteht der Eindruck, der Autor sei etwas zu sehr um Political Correctness im Sinne der aktuellen geschlechtergeschichtlichen Perspektiven bemüht. Dadurch drängt er seine Protagonistin womöglich in eine Opferrolle, die durch die Fakten nicht gedeckt erscheint (vor allem 90 f.). Diese Haltung kann auch zu Schlüssen verleiten, die wenig stichhaltig anmuten: So wird als Indiz für "unterschwellige Ablehnung durch männliche Kollegen" gesehen, dass mal der Name, mal das Geschlecht von Stourzh-Anderle in Fachzeitschriften fehlerhaft angegeben worden sei (20). Dies kommt aber bekanntermaßen immer wieder vor, auch in der Studie Mildenbergers (z. B. Fußnoten 279, 343, 443).
Zusammenfassend dargestellt, lässt Mildenberger in seiner Studie die Gestalt einer äußerst couragierten Frau lebendig werden, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in einer von Männern dominierten, antifeministischen Medizin ihren Berufswunsch als Gynäkologin erfüllte. Obschon in der Ehe sicherlich als Hausfrau gefordert und nach dem frühen Tod ihres Mannes allein erziehende Mutter, profilierte sie sich in der beruflichen Praxis ebenso wie in der Wissenschaft als erfolgreiche Frauenärztin, Sexualforscherin und Sexualpädagogin. Ihre zahlreichen Publikationen, die zwar im Wesentlichen in der Privatpraxis, aber zumindest in Teilen auch in Kooperation mit ihrer universitären Ausbildungsklinik entstanden, dürfen sicherlich als wertvoller, geschlechtsspezifischer Beitrag zur Wissenschaft gewertet werden.
Anmerkungen:
[1] Johanna Bleker: Zur wissenschaftlichen Betätigung der frühen Ärztinnen, in: Johanna Bleker / Sabine Schleiermacher: Ärztinnen aus dem Kaiserreich. Lebensläufe einer Generation, Weinheim 2000, 89-126 und 114.
[2] Jürgen Schlumbohm / Barbara Duden/ Jacques Gélis / Patrice Veit (Hg): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998.
Wolfgang Frobenius