Wolfgang Kemp: Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900-1947, München: Carl Hanser Verlag 2010, 384 S., ISBN 978-3-446-23518-2, EUR 24,90
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Der Blick von außen ist in mancherlei Hinsicht schärfer als der auf das eigene Land. Das hat unterschiedliche Gründe. Einer ist, dass sich der Fokus - nicht selten aus einem Mangel an Detail- und Hintergrundwissen - auf das Wesentliche beschränkt. Hinzu kommt, dass sich die Wahrnehmungsschablonen - denn Wahrnehmung basiert bekanntlich auf Erfahrung - von denen der Menschen, die in einem anderen Land sozialisiert wurden, unterscheiden. Das mag im 21. Jahrhundert aufgrund von globalisierungsbedingten Angleichungsprozessen weniger geworden sein; für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, als eine Reise von London nach Berlin nicht selten mehrere Tage dauerte, hat es jedoch zweifellos Gültigkeit.
Berücksichtigt werden in Wolfgang Kemps Studie über die Erlebnisse und Eindrücke "einiger Engländer" in Deutschland - er betont ausdrücklich, dass es ihm nicht um die Konstruktion eines Deutschlandbildes geht - all jene, die mit einem persönlichen Anliegen nach Deutschland kamen und sich nicht lediglich auf der Durchreise oder zu Ferienzwecken im Land befanden. Ausgeschlossen hingegen sind die professionellen Vermittler zwischen England und Deutschland, wie beispielsweise Journalisten oder Militärs. Jedoch gibt es Ausnahmen, etwa im Fall von Harold Nicolson, einem von London abgeordneten Diplomaten, der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre als eine wichtige Anlaufstelle des literarischen und kulturellen Lebens in Berlin fungierte. Und auch was die Definition von "Engländer" anbelangt, ist Kemp großzügig: So sind es nicht allein Briten aus dem Vereinigten Königreich, die auftreten, sondern auch - wie Elizabeth von Arnim oder Katharine Mansfield - Bewohner des Commonwealth; berücksichtigt werden zudem US-Amerikaner, die - wie Ezra Pound oder T.S. Eliot - den überwiegenden Teil ihrer künstlerischen Sozialisation in London erfahren haben.
Dabei fällt auf: Am größten war das englische Interesse an Deutschland stets in Krisen- und Katastrophenzeiten, also während des Ersten Weltkrieges, der Hitler-Diktatur sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit. Darüber hinaus jedoch bot Deutschland - insbesondere im ersten Drittel des Jahrhunderts - auch ganz praktische Vorteile, wie etwa die günstige Familiengesetzgebung, wenn man sich verheiraten oder scheiden lassen wollte, oder auch die zahlreichen Bäder- und Kurorte an der Nord- und Ostsee, wo man sich - preisgünstiger als in England - einer Gesundheitsbehandlung oder einer Psychotherapie unterziehen konnte. Attraktiv war Deutschland - und allen voran natürlich Berlin - zudem für ein jüngeres englisches Publikum, denn die Inflation ermöglichte den Besitzern von Devisen zumindest vorübergehend ein Leben in Saus und Braus, was den Wünschen der britischen Besucher nicht selten entgegenkam: "Berlin war in den zwanziger Jahren", so Kemps pointierte Zusammenfassung, "was Bangkok für die Achtziger und Neunziger war, die Hauptstadt des Sextourismus, und ganz speziell das Mekka homosexueller Reisender." W.H. Auden, der wohl nicht zuletzt deswegen viele Monate in Berlin lebte und dichtete, formulierte es im Dezember 1928 wie folgt: "Berlin is the buggers daydream".
Wie schnell jedoch aus dem Berliner Spaß Ernst wurde, zeigten die darauffolgenden Jahre. Auden heiratete 1935 seine Berliner Bekannte Erika Mann, um sie auf diese Weise vom leidigen Exilproblem der Passbeschaffung zu befreien. Und auch für die englischen Deutschlandbesucher hatten sich die Bedingungen seit dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten radikal verändert. Während viele der bisherigen Besucher das Land 1933 - nicht selten zusammen mit ihren Deutschen Freunden und Bekannten - fluchtartig verlassen hatten, kamen nun vor allem Gäste, die sich dezidiert für eine Innenansicht des neu geschaffenen Nazi-Staates interessierten. Entsprechend bot der englische Reiseanbieter Thomas Cook seiner Kundschaft ab 1933 Informationsreisen ins "neue Deutschland" an, unter dem vielversprechenden Motto: "Germany is News". Zu den neuen Besuchern gehörten fortan sowohl Bewunderer der NS-Politik, wie der Journalist Wyndham Lewis, der in Hitler einen "Mann des Friedens" erblickt, als auch Gegner, wie beispielsweise Brian Howard, ebenfalls ein enger Bekannter von Erika und Klaus Mann, der erst 1936 zur Persona non grata erklärt wurde und daraufhin nach Österreich übersiedelte.
Die meisten Engländer jedoch kehrten Berlin bereits 1933 den Rücken, wenngleich auffällt, dass viele von ihnen nicht den Weg zurück nach England suchten, sondern sich - wie zahlreiche prominente deutsche Exilanten auch - in Frankreich niederließen. Insbesondere die Côte d'Azur wurde nun für viele englische Schriftsteller und Kunstschaffende zur neuen Heimat; dort trafen sich in den 1930er Jahren nicht nur Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig und Franz Werfel zum gelegentlichen Austausch über Politik und Literatur, sondern eben auch Aldous Huxley, H.G. Wells und Sommerset Maugham. Anders als zuvor in Berlin blieben die nationalen Grüppchen hier jedoch weitgehend unter sich; gelegentliche Versuche der Zusammenführung schlugen fehl, wohl auch deswegen, weil die Vorstellungen vom gesellschaftlichen Leben im Exil - das auf der einen Seite ein erzwungenes, auf der anderen hingegen ein freiwilliges war - nicht recht zusammenfanden. Selbst bekennenden Kosmopoliten wie Klaus Mann gelang es nicht, die nationale Barriere zu durchbrechen; dies zeigte sich unter anderem darin, dass in der von ihm herausgegebenen antifaschistischen Zeitschrift "Die Sammlung" englischsprachige Autoren - abgesehen von einigen persönlichen Freunden, wie Christopher Ishwerwood - so gut wie nicht vertreten waren.
Wolfang Kemp konzentriert sich in dieser lesenswerten Studie schwerpunktmäßig auf die Literatur sowie die Kulturbeziehungen zwischen Deutschen und Engländern. Gleichwohl lassen sich politischen Implikationen dabei nicht vollkommen aussparen. Das wird vor allem in den 1930er Jahren deutlich, als nach dem Berlin-Rausch der Weimarer Jahre die Ernüchterung einsetzte. Gerade in den Jahren des Exils erwiesen sich die Berührungspunkte zwischen deutschen und englischen Kulturschaffenden dann als besonders gering - und naturgemäß vermochten daran weder der Krieg noch die unmittelbare Nachkriegszeit etwas zu ändern. Erst die Swinging Sixties sorgten für eine neuerliche Annäherung zwischen Deutschen und Engländern - doch ist das nicht mehr Thema von Kemps Buch.
Florian Keisinger