Fergus Campbell: The Irish Establishment 1879-1914, Oxford: Oxford University Press 2009, xvii + 344 S., ISBN 978-0-199-23322-9, GBP 55,00
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Zahlreiche Bücher sind in den vergangenen Jahren erschienen, die sich - teilweise vergleichend - mit der Geschichte Irlands in den Jahren vor der irischen Revolution (1912-1923) befassen. Hierzu zählt unter anderem die bemerkenswerte Studie von Eugenio Biagini über die gegenseitige Beeinflussung von englischer Demokratie und irischem Nationalismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. [1] Eingehend befasst sich Biagini darin mit den Ambiguitäten im irisch-nationalistischen Lager in den Jahren der Home Rule-Debatte. Die Auseinandersetzung, so sein Fazit, habe die Polarisierung in der irischen Politik maßgeblich befördert und auf diese Weise die Grundlage für die spätere Brutalisierung der Gesellschaft im Zuge von Revolution und Bürgerkrieg gelegt. Nicht nur in England, auch in Irland hätten damit die Diskussionen über Home Rule einer gesellschaftlichen Radikalisierung Vorschub geleistet, deren Auswirkungen die Politik über viele Jahre prägen sollten.
Während sich Biagini in erster Linie mit den politischen Dimensionen dieser Entwicklung befasst, interessiert sich Fergus Campell, Dozent an der Universität Newcastle, der sich in seinen früheren Arbeiten vorwiegend mit den Besonderheiten der irischen Revolution im ländlichen Raum beschäftigt hat, vor allem für die gesellschaftlichen Strömungen in Irland während der rund dreieinhalb Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Zumal er davon überzeugt ist, dort, und nicht in den Ränkespielen irischer und britischer Politiker, die tatsächlichen Gründe für den gewalttätigen Verlauf der Revolutionsjahre zu finden. Entsprechend ist es eine auf den ersten Blick recht heterogene irisch-protestantische Mittelschicht - zu ihr gehören Handeltreibende ebenso wie Staatsdiener, Geistliche oder Polizisten -, die Campell ins Zentrum seiner Analyse stellt und in der er die eigentliche politische und gesellschaftliche Elite des Landes im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu erkennen glaubt. Sie alle eint, neben dem gemeinsamen Glaubensbekenntnis, die Sorge vor dem Heranwachsen einer emanzipierten katholischen Klasse, deren Aufstieg zwangsläufig die eigenen Pfründe und Privilegien schmälern würde. Das zu unterbinden und damit den protestantischen Schichten ihren vermeintlich gottgegebenen Anspruch auf gesellschaftliche, politische und nicht zuletzt materielle Vorrangstellung zu bewahren, ist nach Campells Überzeugung das eigentliche Bindeglied zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Professionen. Wie dies von den Beteiligten im Einzelnen betrieben wurde, davon handeln die insgesamt sechs Kapitel seines Buches, wobei die Struktur der Arbeit an den jeweiligen Berufsgruppen ausgerichtet ist, die für Campell den Kern irisch-protestantischer Mittelschicht ausmachen: Landbesitzer, Verwaltungsbeamte, Polizisten, Politiker, Geschäftsleute und Geistliche. Alle zusammen formen sie, wie bereits der Titel des Buches verrät, The Irish Establishment.
Den Anfang machen die Landbesitzer, deren Positionierung in den Worten Captain Cosbys, einem Großgrundbesitzer aus dem County Queens, adäquat zum Ausdruck kommt: "I do not intend to die without a struggle!" Gleichwohl war der Kampf ein ungleicher. Während die protestantischen Landbesitzer mit großzügigen politischen und finanziellen Zuwendungen aus London rechnen konnten - zwischen 1903 und 1921 waren dies immerhin rund 180 Millionen Pfund -, wurden im selben Zeitraum die überwiegend katholischen Landarbeiter in großer Anzahl des Landes verwiesen. Rund 30.000 Familien verloren während der 1880er Jahre auf diese Weise ihren Lebensunterhalt, ein Trend, der auch in der Folgezeit nicht abreißen sollte. Aktiv unterstützt wurden die landlords dabei von der irischen Verwaltung, sowohl in Dublin als auch in den Counties, sowie dem Großteil eines Polizeiapparates, in dessen Reihen Katholiken deutlich unterrepräsentiert waren. Führungsfunktionen, dies gilt für Polizei und Verwaltung gleichermaßen, blieben katholischen Iren in der Regel verschlossen, wobei ins Auge sticht, dass ihr ohnehin geringer Anteil im Verlauf des Untersuchungszeitraumes weiter zurückging: Waren im Jahr 1881 noch rund 28 Prozent im gehobenen Polizeidienst Katholiken, reduzierte sich ihr Anteil bis 1911 auf unter 14 Prozent. Auf diese Weise blieb die Insel, so Campells Fazit, fest in der Hand eines protestantischen Establishments, das alles daran setzte, seine Vorstellungen von einer geschlossenen irischen Gesellschaft ins 20. Jahrhundert hinüberzuretten. Erst die Revolution und schließlich die Ausrufung des irischen Freistaates vermochten dieser Praxis einer quasi-institutionalisierten Besitzstandwahrung ein Ende zu bereiten.
Campells Studie ist holzschnittartig, und bisweilen sogar einseitig, doch liegt genau darin ihr spezieller Reiz. So lassen sich die meisten seiner Argumente mit Recht hinterfragen - beispielsweise der Rückgang der Katholiken in den Reihen der Polizei, der womöglich auch dem Umstand geschuldet sein könnte, dass sich im frühen 20. Jahrhundert unzählige Männer in paramilitärischen Freiwilligenverbänden organisierten und dies mit dem staatlichen Polizeidienst kaum vereinbar gewesen sein dürfte -, doch mangelt es den mitgelieferten Begründungen nur selten an plausibler empirischer Unterfütterung. Der Wissens- und Quellenfundus, dessen Campell sich dabei bedient, ist beeindruckend - auch dann, wenn man seine Argumentation nicht in allen Punkten teilt. Alles in allem ist Campell mit seinem Buch ein ebenso lesenswerter wie informativer Beitrag zur Erforschung der unruhigen Vorrevolutionszeit in Irland gelungen, der sicherlich noch für die eine oder andere lebhafte Diskussion unter den Experten sorgen wird.
Anmerkung:
[1] Biagini, Eugenio F.: British Democracy and Irish Nationalism 1876-1906, Cambridge 2007.
Florian Keisinger