Tim Szatkowski: Karl Carstens. Eine politische Biographie, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 577 S., ISBN 978-3-412-20013-8, EUR 39,90
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Die berufliche und politische Laufbahn von Karl Carstens (1914-1992) ist außergewöhnlich: Während der NS-Herrschaft Ausbildung zum Juristen; im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldat und Anwalt; von 1949 bis 1969 Tätigkeit in der Ministerialbürokratie und Aufstieg vom Bremer Landesbevollmächtigten zum Chef des Bundeskanzleramts; parallel dazu eine wissenschaftliche Karriere als Professor für Staats- und Völkerrecht; dann Spitzenpolitiker als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, als Bundestagspräsident und schließlich als Bundespräsident.
Im Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit nimmt er gleichwohl keinen vorderen Platz ein. Als Präsident steht Carstens ganz im Schatten seines unmittelbaren Amtsnachfolgers Richard v. Weizsäcker, dessen Glanz fast alle(s) überstrahlt. Nichtsdestoweniger: Für eine spannende Biografie mangelt es weder an Stoff noch an Quellen. Für seine Dissertation konnte Tim Szatkowski neben vielen bereits veröffentlichten Akten insbesondere auf den im Bundesarchiv lagernden Nachlass zurückgreifen, der die Jahre von 1954/55 bis 1992 umfasst. Allerdings gelang es ihm nicht, Einsicht in persönliche Dokumente aus der Zeit vor 1945 zu nehmen, die sich offensichtlich im privaten Besitz der Witwe befinden.
Mit diesem Buch liegt erstmals eine wissenschaftliche Biografie über Karl Carstens vor. Zugleich ist es erst das dritte Mal, dass ein Historiker das politische Leben eines der bisher neun Bundespräsidenten umfassend unter die Lupe nimmt. [1] Spannung lässt das Werk indes nicht aufkommen. Das liegt zum einen daran, dass diese "politische Biographie" das Privatleben von Karl Carstens ausblendet - vor allem die 47 Jahre dauernde Ehe mit Veronica Carstens, aber auch lebenslange Freundschaften -, als hätte das keine Relevanz für sein öffentliches Wirken besessen.
Zum anderen zwängt sich Szatkowski für die lange Phase, in der Carstens als politischer Beamter tätig war, in ein zu enges methodisches Korsett. Der Forderung, die Biografie eines Individuums sei in den gegebenen Strukturen und in seinen Handlungskontexten darzustellen, will der Autor durch Vergleiche mit dem Denken und Handeln anderer Persönlichkeiten der jeweiligen Zeit gerecht werden (14). So werden denn speziell zur Europa-, Deutschland- und Ostpolitik der fünfziger und sechziger Jahre unzählige Kreuz- und Quervergleiche mit den Konzepten der damals wichtigsten Regierungspolitiker vorgenommen. Das ist nicht nur sehr ermüdend, sondern meist auch wenig ergiebig. So lautet beispielsweise eines der Ergebnisse, dass "die außenpolitischen Vorstellungen Carstens', trotz großer Übereinstimmung mit denen Brentanos, noch mehr denjenigen Adenauers entsprachen." (114)
Was für eine praktische Bedeutung die vielen Memoranden und Stellungnahmen hatten, die Szatkowski zitiert, und in welchem intra- bzw. interministeriellen Zusammenhang sie entstanden, ist häufig nicht ersichtlich. Die funktionale Rolle, die Carstens als Staatssekretär im Auswärtigen Amt, im Verteidigungsministerium und im Kanzleramt spielte, wird kaum herausgearbeitet.
Die Politikerkarriere des Karl Carstens in der CDU begann eigentlich erst 1972 und verlief verblüffend rasant. Sein rhetorisches Talent, das der parlamentarische Neuling im Bundestag scharfzüngig gegen die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt einsetzte, trug wesentlich dazu bei, dass er nach dem Rücktritt Rainer Barzels im Mai 1973 Fraktionsvorsitzender der Union wurde. Carstens entpuppte sich jedoch nur als ein Übergangskandidat, weil es ihm, wie Szatkowski mehrfach darlegt, an der Fähigkeit zur politischen Führung mangelte (286f.).
Das überparteiliche Amt des Bundestagspräsidenten füllte er dagegen so überzeugend aus, dass CDU und CSU, die damals über die absolute Mehrheit in der Bundesversammlung verfügten, ihn 1979 für die Wahl zum Bundespräsidenten nominierten. Diese Kandidatur war jedoch wegen Carstens' NS-Vergangenheit alles andere als unumstritten und löste eine öffentliche Debatte aus. Während der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl wohl zum Rückzug riet, sicherte die CSU Karl Carstens ihre volle Unterstützung zu (311). Aber erst das Bekanntwerden der einstigen NSDAP-Mitgliedschaft des noch amtierenden Bundespräsidenten Walter Scheel entzog dem Streit um den Kandidaten den Boden.
Bei seiner Untersuchung über das Verhalten von Carstens im "Dritten Reich" kommt Szatkowski zu dem Schluss, der Opportunismus des Bremer Studenten sei "vertretbar" gewesen. In der Entscheidung gegen den Staatsdienst und in der Doktorarbeit, die keine noch so geringen Spuren der nationalistischen Rechtslehre aufweise, sieht der Autor sogar "eine Art 'Verweigerung'". (41)
Doch um sein Assessorexamen abschließen und Rechtsanwalt werden zu können, trat Carstens 1937 dem NS-Rechtswahrerbund bei und beantragte wenig später auch die Aufnahme in die NSDAP. Da sie erst bei Kriegsbeginn vollzogen wurde und die Mitgliedschaft bei Soldaten ruhte, erklärte Carstens später, er habe der Partei nie angehört. In gewissem Widerspruch dazu steht allerdings, dass er ab Oktober 1938 fast ein Jahr lang als Blockhelfer die Beiträge einer NSDAP-Ortsgruppe in Bremen kassierte.
Einen enorm spannenden Sachverhalt, der 1978/79 ebenfalls ein Thema war, streift Tim Szatkowski seltsamerweise nur mit zwei Sätzen (39): die Auftritte von Karl Carstens als Verteidiger beim Reichskriegsgericht. Auf sein eigenes Betreiben hin und über die Verbindung mit dem Berliner Anwalt Dr. Friedrich Lucht hat er mehrere Soldaten anwaltlich vertreten, die wegen Wehrkraftzersetzung, Homosexualität oder Fahnenflucht angeklagt waren. Vor dem höchsten Militärgericht sei es, wie Carstens in seinen Memoiren schrieb, "immer um Leben und Tod" gegangen. [2] Es ist unverständlich, warum der Biograf dieser wichtigen Spur nicht nachgegangen ist und die Zusammenarbeit mit dem Sozialdemokraten Lucht nicht einmal erwähnt.
Die Rüge, dass Karl Carstens "nach 1945 recht oberflächlich und oftmals unkritisch mit der NS-Vergangenheit umging" (42), ist gleichwohl berechtigt. Sie hätte durchaus noch deutlicher ausfallen können. Die Reden des Bundespräsidenten Carstens behandelten die nationalsozialistische Diktatur nur kursorisch. Für das Gedenken an die Opfer, insbesondere die ermordeten Juden Europas, setzte er keinerlei erinnerungspolitische Zeichen. Zum 8. Mai 1945 wie zum 30. Januar 1933 schwieg das Staatsoberhaupt.
Dies damit zu erklären, dass es in seiner Amtszeit keine günstigen Jahrestage gegeben habe (378f.), ist unsinnig. Vielmehr wollte Carstens - nicht anders als die große Mehrheit der Deutschen seiner Generation - einen "Schlussstrich" unter die Vergangenheit ziehen. Seine ablehnende Haltung gegen die Abschaffung der Verjährungsfrist für Mord 1978/79 belegt das ebenso klar wie eine abfällige Äußerung von 1974 über die Amtsführung von Bundespräsident Heinemann: "'Diese Sack- und Asche-Attitüde, mit der er so lange vor uns hergegangen ist, die sollte man wirklich [...] als eines großen Volkes unwürdig bezeichnen.'" (352)
Nicht nur deshalb ist das Label "Liberal-Konservativer" (308) fragwürdig. In der Gesellschaftspolitik findet sich bei Carstens kein liberales Gedankengut. Szatkowski selbst schreibt, als Bundespräsident habe er "geistige Orientierung" gegen die "'Ausuferung der Emanzipationsideologie'" geben wollen, die seiner Meinung nach ein "Vakuum der Werte" hinterlassen hatte (350). Carstens war somit eindeutig ein Vertreter des konservativen Programms einer "geistig-moralischen Erneuerung". Zu den Versuchen, dafür einen Beitrag zu leisten, zählt der Autor auch die Wanderungen durch die Bundesrepublik und wertet sie gar als "eine Kostprobe an geistiger Führung". (386) Wie auch immer: Das Wandern machte den Bundespräsidenten seinerzeit populär. Eine konservative "Wende", zu der es im Übrigen auch nach dem Regierungswechsel 1982 nicht gekommen sei, habe Carstens aber nicht bewirkt, konstatiert Szatkowski.
Wenn am Ende beklagt wird, dass Karl Carstens "bis heute als blass gilt", dann kann der Rezensent abschließend nicht umhin festzustellen: Diese Biografie trägt leider wenig dazu bei, diesen Zustand zu ändern. Als Leser wünschte man sich eine straffere und stringentere Darstellung, die ohne Redundanzen auskommt und nicht ständig in der Chronologie der Ereignisse vor- und zurückspringt. Ein gefälligerer Stil hätte dem Buch ebenfalls gut getan.
Anmerkungen:
[1] Rudolf Morsey: Heinrich Lübke. Eine politische Biografie, Paderborn 1996; Jörg Treffke: Gustav Heinemann - Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biografie, Paderborn 2009.
[2] Karl Carstens: Erinnerungen und Erfahrungen, hg. von Kai von Jena / Reinhard Schmoeckel, Boppard 1993, 85 und 92.
Wolfgang Schmidt