Morten Rasmussen / Ann-Christina Lauring-Knudsen (eds.): The Road to a United Europe. Interpretations of the Process of European Integration (= Euroclio; No. 48), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2009, 380 S., ISBN 978-90-5201-560-6, EUR 40,30
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Wolfram Kaiser / Brigitte Leucht / Morten Rasmussen (eds.): The History of the European Union. Origins of a trans- and supranational polity 1950-72 (= UACES Contemporary European Studies Series; 7), London / New York: Routledge 2009, XI + 228 S., ISBN 978-0-415-46393-5, GBP 75,00
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Alexander Reinfeldt: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Akteure und Strategien supranationaler Informationspolitik in der Gründungsphase der europäischen Integration, 1952-1972, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014
Michael Sutton: France and the Construction of Europe, 1944-2007. The Geopolitical Imperative, New York / Oxford: Berghahn Books 2011
Guido Thiemeyer: Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Stuttgart: UTB 2010
Hélène Miard-Delacroix: Im Zeichen der europäischen Einigung 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011
Philip Bajon: Europapolitik "am Abgrund". Die Krise des "leeren Stuhls" 1965-66, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012
Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (eds.): Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-making 1958-1992, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013
Wolfram Kaiser: Christian Democracy and the Origins of European Union, Cambridge: Cambridge University Press 2007
Wolfram Kaiser / Antonio Varsori (eds.): European Union History. Themes and Debates, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010
Die politische und wirtschaftliche Geschichte der europäischen Integration genießt unter jüngeren Historikern in Deutschland gegenwärtig keine besondere Reputation. Unter der gegenwärtigen Dominanz der neueren Kulturgeschichte im deutschsprachigen Raum werden zwar europäische Themen durchaus behandelt, allerdings gelten die Europäische Union und andere internationale europäische Organisationen offenkundig als uninteressant. Das zeigt sich implizit auch an den hier zu besprechenden Sammelbänden zur Geschichte der europäischen Integration. Zwar sind deutsche Nachwuchshistoriker durchaus prominent vertreten, die meisten allerdings forschen und lehren im europäischen Ausland, vor allem in Großbritannien, in Skandinavien und am europäischen Hochschulinstitut in Florenz.
Gerade der Band von Morten Rasmussen und Ann-Kristina Lauring-Knudsen versammelt die Arbeiten einer Reihe jüngerer Forscher, die meisten von ihnen stellen laufende oder gerade abgeschlossene Dissertationsprojekte vor. Er geht auf eine Tagung zurück, die im Rahmen des RICHIE-Projektes (RICHIE steht für "Réseau international de jeunes chercheurs en histoire de l´intégration européenne") in Kopenhagen stattfand. Die Herausgeber betonen in der Einleitung zu diesem Band ihre enge Verbundenheit zu ihrem akademischen Lehrer Alan Milward, der mit seinen Thesen zur europäischen Integrationsgeschichte (neben Walter Lippgens) die bisherige Forschung in starkem Maße geprägt hat. Da die meisten der Beiträge auch Bezug auf Milwards Arbeiten nehmen, ist dieses Buch in mancher Hinsicht eine (kritische) Hommage an Milward geworden. Entsprechend der in den letzten Jahren vollzogenen inhaltlichen Ausdifferenzierung der europäischen Integrationsforschung präsentiert sich auch dieser Band als inhaltlich und methodisch recht heterogen. Das muss kein Nachteil sein, im Gegenteil, das Buch ist in gewisser Hinsicht repräsentativ für die Vielfalt europäischer Integrationsforschung in der Gegenwart. Alle Beiträge beruhen auf zum Teil sehr umfangreichen Archivrecherchen und liefern daher weitgehend neue Erkenntnisse.
Das Buch umfasst fünf Kapitel, die jeweils einem eigenen Großthema gewidmet sind. Das ist erstens ein ideengeschichtlicher Zugriff. Hier werden die Europavorstellungen von Intellektuellen, Pressure-Groups und Einzelpersönlichkeiten untersucht. Hier geht es um die Staatstheorie von Pierre-Joseph Proudhon und ihren Einfluss auf föderalistische Europakonzeptionen in Frankreich in der Zwischenkriegszeit und in der Résistance (Carol Bergami), um die "Young European Federalists" (Fançois-Xavier Lafféach), um Jean Monnet (Lucia Bonfreschi) und Edward Heath (Niklas H. Rossbach).
Das zweite Kapitel beschäftigt sich explizit mit der von Alan Milward formulierten These von der "European Rescue of the Nation-State". Der britische Historiker entwickelte das Argument nicht zuletzt während seiner frühen Forschungen zur Genese der Gemeinsamen Agrarpolitik. Anders Thornvig Sørensen bestätigt diesen Befund, weist aber darauf hin, dass die Entstehung der GAP durchaus zu komplex ist, um sie auf eine solche These zu reduzieren. Volle Bestätigung findet die These Milwards durch die Untersuchungen von Ferdinand Leikam über den britischen Beitrittsantrag zur EWG und seine Motive. Der Beitritt zur EWG, so Leikam, diente in besonderem Maße dazu, dem Nationalstaat die Ressourcen für eine Weltmachtpolitik insbesondere im Prozess der Dekolonisierung zu sichern. Der Beitrag von Henning Türk über die Motive der bundesdeutschen Europapolitik zwischen 1966 und 1969 setzt sich mit der These Andrew Moravcsiks über den "Liberalen Intergouvernementalismus" auseinander Das Argument, so Türk, ist gültig, bedarf aber der Ergänzung im Detail.
Im dritten Kapitel des Buches stehen die Fragen der wirtschaftlichen Integration und der Globalisierung im Zentrum des Interesses. Simone Selva zeigt am Beispiel der US-amerikanischen Italienpolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wie eng wirtschaftliche Integration, militärische Kooperation und politische Integration zusammenhängen. Giuliano Garavini zeigt in seinem Beitrag die bedeutende Rolle der EG-Staaten in der Überwindung der globalen Ölpreis-Krise. Thomas Fetzer beschäftigt sich mit den Anfängen gewerkschaftlicher Europapolitik als Reaktion auf die wirtschaftliche Entgrenzung in den 1980er und 1990er Jahren.
Das vierte Kapitel nimmt die politischen Entscheidungen verschiedener nationaler Regierungen zur Europäischen Integration in den Blick. Guia Migani erklärt, dass es schon in den 1960er Jahren eine enge außenpolitische Kooperation der EG-Staaten gegeben habe, nämlich im Bereich der Entwicklungspolitik. Diesen Faden nimmt Angela Romano auf und zeigt die politische Kooperation der EG-Staaten im Kontext des Helsinki-Prozesses Anfang der 1970er Jahre. Kimmo Elo betont die Bedeutung der europäischen Integration für die bundesdeutsche Ostpolitik von Willy Brandt bis zu Gerhard Schröder. Die europäische Integrationspolitik der Bundesregierungen sei auch immer eine Funktion der globalen Entspannungspolitik gewesen. Philip Robert Bajon geht noch einmal auf die Krise des leeren Stuhls 1965/66 ein und zeigt vor allem die regierungsinternen Konflikte in Frankreich. Die Ministerien für Finanzen und für Auswärtige Angelegenheiten unterstützten den Konfrontationskurs des Staatspräsidenten in der Krise keineswegs so einhellig, wie dies oft nach außen wirkte. Helen Parr betont - ergänzend zu dem bereits erwähnten Beitrag von Ferdinand Leikam - die Bedeutung der diplomatischen Verhandlungen vor allem über Atomfragen zwischen Großbritannien und Frankreich im Kontext des britischen Beitrittsgesuches. Aurélie Elisa Gfeller beschäftigt sich mit der französischen Reaktion auf die "Year of Europe"-Initiative Henry Kissingers im Jahr 1973. Diese sei in Paris auf äußerste Skepsis gestoßen und habe den französischen Selbstbehauptungswillen gegenüber den USA mehr gestärkt als die transatlantische Kooperation.
Das letzte Kapitel des Buches widmet sich schließlich einem Forschungsfeld, das noch weitgehend an den Anfängen steht, den europäischen Institutionen und ihrer Entwicklung. Katja Seidel untersucht die Rolle der Generaldirektion VI der Europäischen Kommission unter der Leitung des Niederländers Sicco Mansholt und deren Bedeutung für die Entstehung der Gemeinsamen Agrarpolitik. Hier werden die Bedingungen klar, unter denen die Gemeinsame Agrarpolitik zum wichtigsten Projekt der Europäischen Kommission in den 1960er Jahren werden konnte. Ein ganz anderes Feld war die Öffentlichkeitsarbeit der Kommission. Alexander Reinfeld stellt dar, wie die Kommission durch gezielte Initiativen den Beitritt Großbritanniens zur EG in der britischen Öffentlichkeit vorbereitete. Simone Paoli untersucht am Beispiel der Bildungspolitik, wie und warum nationale Regierungen (in diesem Falle die französische Regierung) sich entscheiden, traditionelle Zuständigkeitsbereiche an die supranationale EWG zu delegieren. Mit der europäischen Kommission war eine Institution geschaffen, die auch ihrerseits versuchte, neue Tätigkeitsfelder zu erschließen, wie Laura Scichilone zeigt, die sich mit den Anfängen europäischer Umweltpolitik beschäftigt. Diese von den europäischen Institutionen ausgehende Dynamik betont ebenfalls Federica di Sarcina, die die Entstehung der Kommission für Frauenrechte im Europäischen Parlament untersucht. Eine der bedeutendsten institutionellen Veränderungen der Gemeinschaft, die Entstehung des Europäischen Rates zwischen 1969 und 1974 nimmt schließlich Emmanuel Mourlon-Druol auf der Basis französischer Archivalien in den Blick. Er interpretiert die Entstehung des Europäischen Rates als eine Reaktion auf den in den Krisen der 1960er Jahre deutlich gewordenen Mangel an Führungskraft innerhalb der Gemeinschaft.
Insgesamt kann man die Heterogenität der verschiedenen Beiträge dieses Bandes gewiss kritisieren. Andererseits zeigt das Buch, wie stark sich die europäische Integrationsforschung inzwischen ausdifferenziert hat, in methodischer Hinsicht, aber auch in Bezug auf die Inhalte.
Ganz anders ist die Herangehensweise des Bandes von Wolfram Kaiser, Brigitte Leucht und Morten Rasmussen. Ihr Ziel ist ein Dreifaches: Zum einen verstehen sie die europäische Integration als Entstehungsprozess einer transnationalen Netzwerkgesellschaft. Nicht politische Entscheidungen seien entscheidend für das Verständnis der EU, sondern die Analyse von politischen Parteien, Interessenverbänden, Wissenschaftlern und Journalisten, die die gesellschaftliche Ebene repräsentierten. Daher plädieren sie zweitens dafür, die EU als dynamisches, neues politisches System zu verstehen, das sich nach anderen Regeln unabhängig von Nationalstaaten entwickelt. Diese Thesen sollen - drittens - an verschiedenen Fallbeispielen erläutert werden.
Die ersten beiden Beiträge des Bandes von Wolfram Kaiser und Morten Rasmussen gehen ausführlicher auf den methodischen Ansatz ein. Kaiser erläutert im Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Forschungen die Fruchtbarkeit des Netzwerk-Ansatzes und seine Erkenntnismöglichkeiten für Historiker. Rasmussen betont eher die Besonderheit des politischen Systems der EU, das nicht mit den klassischen Nationalstaaten vergleichbar sei und deswegen auch mit anderen Kategorien untersucht werden müsse. Beide plädieren daher für die Integration von sozialwissenschaftlichen Instrumenten in die geschichtswissenschaftliche Integrationsforschung. Das ist auch das zentrale Argument im Beitrag von Alex Warleigh-Lack: Die Europäische Integration kann nur interdisziplinär erforscht werden.
Die anderen Beiträge verfolgen das Ziel, diese theoretischen Prämissen empirisch umzusetzen: Brigitte Leucht vertritt die These, dass die Kartellgesetzgebung der EU in starkem Maße durch Netzwerke von Wissenschaftlern, Beamten und Politikern geschaffen wurde. Auf diese Weise wurde die Europäische Kartellgesetzgebung einerseits durch die US-amerikanischen Anti-Trust-Laws beeinflusst, andererseits durch das ordoliberale Denken der deutschen Ökonomie (Freiburger Schule). Die Ergebnisse werden bestätigt durch die Untersuchung von Katja Seidel über die Entstehung und Umsetzung der Wettbewerbspolitik in der GD IV der Kommission. Auch hier war der Einfluss der Ordoliberalen gewaltig und es gelang dieser epistemischen Gemeinschaft innerhalb der Kommission ihre Ideen gegen alle Angriffe - insbesondere französischer Provenienz - zu verteidigen. Völlig anders hingegen waren die Faktoren, die die Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Kommission prägten. Eine solche war - im Gegensatz zur Wettbewerbspolitik und der Kartellgesetzgebung - in den Verträgen gar nicht vorgesehen. Hier entwickelte sich also ein neues Politikfeld unabhängig von den Nationalstaaten, wie Lise Rye erläutert. Auch der Beitrag von Ann-Kristina Knudsen beschäftigt sich mit der Dynamik des neuen politischen Systems. Sie vermag zu zeigen, wie das Europäische Parlament, das zunächst ausschließlich beratende Funktion hatte, dennoch erheblichen Einfluss auf die Finanzpolitik der Gemeinschaft gewann. Auch die Entwicklung des COREPER, der eigentlich auch nicht im Institutionengefüge der Verträge vorgesehen war, zu einem der wichtigsten Gremien kann nur durch die institutionelle Dynamik des Mehrebenensystems erklärt werden, wie N. Piers Ludlow zeigt.
Sigfrido Ramirez Pérez untersucht die Aktivitäten einer europäischen Lobby-Group in der Automobilindustrie, des Committee of Common Market Automobile Constructors (CCMC) zwischen 1969 und der Mitte der 1980er Jahre. Die Vertreter dieser Gruppe verfügten über enge Kontakte und direkten Zugang zu den für sie relevanten Entscheidungsträgern in der Kommission. Der Beitrag zeigt, wie multi-level-governance in der EWG funktionierte.
Mit den parteipolitischen Netzwerken der Sozialdemokraten in Skandinavien beschäftigt sich der Beitrag von Kristian Steinnes. Er schreibt den Netzwerken drei Funktionen zu: Zum einen dienten sie dem inoffiziellen Informationsaustausch, der Sozialisierung der neuen Mitglieder schon vor dem Beitrittsantrag von 1967 und schließlich entwickelte sich im Rahmen der Parteikooperation eine inoffizielle Außenpolitik der skandinavischen Staaten.
Jan-Hendrik Meyer beschäftigt sich mit dem Problem einer europäischen Medienöffentlichkeit im Kontext des Haager Gipfels von 1969. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die transnationale Kommunikation zwischen den führenden Zeitungen der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und Großbritannien hoch war. Auch Journalisten trugen dazu bei, ein europäisches Netzwerk zu knüpfen und trugen dem transnationalen Kulturtransfer bei.
Zusammengefasst: Insgesamt ist der These des Bandes zweifellos zuzustimmen. Netzwerke beeinflussen das europäische Mehrebenensystem in entscheidendem Maße, insofern müssen sie auch Bestandteil historischer Forschung sein. Und dennoch bleiben kritische Einwände. Die Forderung nach sozialwissenschaftlichen Methoden in der Geschichtswissenschaft ist nicht so neu, wie die Herausgeber suggerieren. Das war schon ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Debatte in den 1970er Jahren um die Historische Sozialwissenschaft. Das Ergebnis war, dass es keinen Sinn macht, sozial- und politikhistorische Ansätze gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr nach ihren wechselseitigen Verknüpfungen gefragt werden sollte.
Gerade diese Verknüpfung aber bleibt in den meisten Beiträgen (Ausnahme: Piers Ludlow) unklar oder wird gar nicht thematisiert. So war doch erst das politische Ereignis des Haager Gipfels der Auslöser für die Entstehung der von Jan Hendrik Meyer beobachteten europäischen Medienöffentlichkeit. Auch die Lobby-Netzwerke der Automobilindustrie etablierten sich erst, nachdem durch politische Entscheidungen die Europäischen Institutionen geschaffen waren. Gerade die Verflechtung von sozialen Netzwerken und politischen Institutionen, ihre wechselseitige Abhängigkeit und die diesem System inhärente Dynamik sollte daher ein wesentliches Ziel weiterer Forschungen sein.
Guido Thiemeyer