Torsten Diedrich / Winfried Heinemann / Christian F. Ostermann (Hgg.): Der Warschauer Pakt. Von der Gründung bis zum Zusammenbruch 1955 bis 1991 (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 16), Berlin: Ch. Links Verlag 2009, VIII + 367 S., ISBN 978-3-86153-504-1, EUR 34,90
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In den siebziger und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts lasteten die Panzermassen, Nuklearraketen und die auf einen schnellen Durchbruch zum Ärmelkanal abzielende Offensivstrategie des Warschauer Pakts als Albdruck auf der Seele der Westeuropäer. Trotz wirtschaftlicher Schwächen schien insbesondere die UdSSR, die Hegemonialmacht des kommunistischen Waffenbunds, zunehmend in der Lage, die NATO samt ihrer Führungsmacht USA militärisch an die Wand zu spielen. Die neunziger Jahre sahen dann jedoch nicht den Zerfall der Nordatlantischen Allianz, sondern die Auflösung des Warschauer Pakts und den Kollaps des kommunistischen Regimes.
Aufgrund des stark militärischen Charakters der Ost-West-Konfrontation, die wohl letztlich wegen der wechselseitigen Kernwaffenbedrohung nicht zu einem heißen Krieg eskalierte, befassten sich bereits während der Dauer des Konflikts zahlreiche westliche Sowjetologen [1], Politologen und Militärexperten mit dem östlichen Bündnis. Ungeachtet des stark konspirativen Charakters kommunistischer Herrschaft gelang es diesen Beobachtern doch, ein relativ zutreffendes Bild von der Entwicklung und den Absichten der östlichen Militärallianz zu gewinnen. Letzte Sicherheit konnte es in vielen Fragen aber nicht geben, da die entsprechenden internen Dokumente nicht zur Verfügung standen und viele Erkenntnisse auf nachrichtendienstlichen Quellen beruhten, die in der öffentlichen Diskussion kaum überprüft werden konnten. In seiner 2005 erschienenen Dissertation lieferte Frank Umbach eine dichte Geschichte des Warschauer Pakts, die sich in erster Linie auf die Arbeiten westlicher Analytiker und die zeitgenössischen offenen Quellen der Warschauer-Pakt-Staaten stützte, kaum aber auf die zu diesem Zeitpunkt bereits zugänglich gewordenen Archivalien. [2] Einen anderen Weg gingen die Autoren Vojtech Mastny und Malcolm Byrne, die ebenfalls 2005 eine Sammlung von Schlüsseldokumenten herausgaben, die sie in den Archiven ehemaliger Mitgliedstaaten des Pakts zutage gefördert hatten. [3]
Trotz dieser Beiträge und einiger nützlicher Monografien zu Teilaspekten des Themas [4] bleibt die Forschungslage insgesamt eher dürftig; was auch eine Folge der fortdauernden Unzugänglichkeit zentraler sowjetischer Aktenüberlieferungen ist. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr nunmehr einen Tagungsband vorgelegt hat, der die Geschichte des Warschauer Pakts vornehmlich aus der Perspektive seiner ehemaligen Mitgliedstaaten beleuchtet. Wie bei einem solchen Unterfangen nicht anders zu erwarten, fällt die Qualität der einzelnen Beiträge durchaus unterschiedlich aus. So liefert der Mitherausgeber Torsten Diedrich einen umfassenden Überblick zur Militärgeschichte der DDR, dem allerdings etwas mehr Fokussierung und eine klarere Fragestellung gut getan hätten. Rüdiger Wenzke, ebenfalls MGFA, demonstriert dagegen die Vorzüge der thematischen Beschränkung, indem er in einem Beitrag zu den Waffenbrüderschaftsbeziehungen zwischen der Nationalen Volksarmee und den Armeen der anderen Ostblockstaaten die durch wachsende professionelle Kompetenz errungenen Prestigegewinne des DDR-Militärs dokumentiert.
Der Volksrepublik Polen sind gleich drei Beiträge gewidmet. Während Wanda Jarzabek sich mit Warschaus Bemühungen befasst, die Deutschlandpolitik von Breschnews Politbüro mit Hilfe der Pakt-Beziehungen im Sinne Polens zu gestalten, untersucht Klaus Bachmann die Haltung der polnischen Bevölkerung zu den Streitkräften und deren sich wandelndes Traditionsverständnis im Hinblick auf die kommunistischen und national-polnischen Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. In dem wohl klügsten Beitrag des Bandes untersucht Andrzej Paczkowski die Rolle der Polnischen Volksarmee im Warschauer Pakt, wobei er deren Geschichte bis zu ihrer im Jahre 1943 auf Geheiß des sowjetischen Diktators Stalin erfolgten Gründung zurückverfolgt und die dominierende Rolle sowjetischer Generale und Offiziere bis zu den Umwälzungen des Jahres 1956 nachzeichnet. Im Rahmen der Offensivstrategie des Pakts sollte die "polnische Front" Dänemark einnehmen und durch den Nordteil der Bundesrepublik in die Niederlande vorstoßen. Dazu kam es allerdings nicht, stattdessen "bewährte" sich die Armee im Kampf gegen das eigene Volk und beim Einmarsch in die CSSR.
Eine ähnlich ambivalente Geschichte spiegelt sich in Imre Okváths Beitrag zur Ungarischen Volksarmee wieder: Diese war von den Sowjets 1956 im Zuge der Niederschlagung der ungarischen Revolution vollständig entwaffnet worden, um dann in den folgenden Jahren unter enger sowjetischer Anleitung gleichsam nochmals begründet zu werden. Anders als Ungarn gelang es Albanien, sich aus den Strukturen des Warschauer Pakts zu lösen und die sowjetischen Marinestützpunkte auf seinem Territorium loszuwerden. Innenpolitisch bedeutete dies allerdings keinen Fortschritt. Ana Lalaj lässt diesen Trennungsprozess in einem sehr informativen Beitrag Revue passieren. In sehr kleinteilig angelegten Beiträgen werden außerdem die militärische Zusammenarbeit Bulgariens und der UdSSR in den Jahren 1955 bis 1964, die Rolle der rumänischen Armee in den Manövern der kommunistischen Allianz sowie die Haltung Bukarests zur Militärreform des Bündnisses in den Jahren 1960 bis 1970 untersucht.
Insgesamt dominiert in dem Band also die Binnenpolitik des Warschauer Pakts, nicht dessen Rolle in der globalen Auseinandersetzung mit der NATO. Angesichts dieses thematischen Schwerpunkts liefert Mark Kramer gleichsam das Leitreferat, indem er in sehr informativer Weise die Rolle der UdSSR und des Warschauer Pakts in den blockinternen Krisen der Breschnew-Ära nachzeichnet. Dabei unterläuft ihm allerdings ein schwerer Patzer, wenn er die Ostpolitik der Bundesrepublik wie folgt resümiert: "Als Gegenleistung für stärkere wirtschaftliche Verbindungen zu Osteuropa erklärte sich Westdeutschland bereit, in seinen Beziehungen zum Osten auf Gewalt zu verzichten, die Oder-Neiße-Linie als die Ostgrenze Deutschlands anzuerkennen, auf alle Ansprüche auf Schlesien in Polen und das Sudetengebiet in der Tschechoslowakei zu verzichten sowie Ostdeutschland als eigenständigen Staat anzuerkennen."(288) So mag man das vielleicht im Marxismus-Leninismus-Unterricht der Sowjetstreitkräfte gesehen haben; ansonsten braucht man kein Freund der sozialliberalen Bundesregierungen zu sein, um für deren Öffnung nach Osten weit überzeugendere Motive als einen solchen Primat der Wirtschaft zu finden - von der Reduzierung der deutschen Ostgebiete auf Schlesien einmal ganz abgesehen.
Wichtige Voraussetzung für das Ende des Pakts im Jahre 1991 war die unter Michail Gorbatschow vorgenommene Reform seiner Militärdoktrin. Der Abschied von einer militärischen Siegstrategie und die Hinwendung zu defensiven Prinzipien öffneten den Weg für Durchbrüche in der Rüstungskontrolle, die das auf rigide Feindbilder angewiesene marxistisch-leninistische Weltbild untergraben halfen. Kurzum: Durch die Annäherung an ihre westlichen Widersacher öffnete sich die sowjetische Führung den Weg für den Abschied von ihren östlichen Freunden. Christopher Jones' Versuch, diesen Paradigmenwechsel darzustellen, vermag jedoch nicht zu befriedigen. Zum einen rückt er den Mitarbeiter im ZK der KPdSU, Georgi Schachnasarow, zu sehr in den Mittelpunkt, ohne sich dabei auf andere Quellen als Schachnasarows Erinnerungen zu stützen. Zum anderen nimmt er die unter Chruschtschow und Breschnew gültigen Militärdoktrinen nicht ernst, sondern missversteht sie als bloßes Täuschungsmanöver, um in den anderen Paktstaaten die Stationierung sowjetischer Interventionsstreitkräfte zu legitimieren. Dazu gesellen sich kuriose Schnitzer, wie die möglicherweise auch einer schlechten Übersetzung geschuldete Einordnung von Otto Kuusinen als "abtrünnigen Herausgeber von 'Probleme der Philosophie'".
Als Fazit bleibt festzustellen, dass der vorliegende Band ein typisches Konferenzprodukt ohne innere Geschlossenheit ist, von dem aber einige Anregungen für die weitere Forschung ausgehen dürften.
Anmerkungen:
[1] Als Beispiel für einen sehr zuverlässig arbeitenden zeitgenössischen Analytiker sei hier nur Gerhard Wettig genannt, der auch in jüngster Zeit noch wichtige Beiträge auf dem Forschungsfeld vorgelegt hat, so z.B.: Entspannung, Sicherheit und Ideologie in der sowjetischen Politik 1969 bis 1979. Zur Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 68 (2009) Heft 1, 75-116; Die Sowjetunion und die Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss 1979-1983, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), 217-259.
[2] Frank Umbach: Das Rote Bündnis. Entwicklung und Zerfall des Warschauer Paktes 1955-1961, Berlin 2005 (= Militärgeschichte der DDR, Bd. 10).
[3] Vojtech Mastny / Malcolm Byrne (eds.): A Cardboard Castle? An Inside History of the Warsaw Pact, Budapest/New York 2005.
[4] Einen wegen seiner Quellennähe sehr aufschlussreichen Einblick in die paranoide Innenwelt des militarisierten Sozialismus liefert der Band von Otto Wenzel: Kriegsbereit. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR, 1960 bis 1989, Köln 1995. Dass sich aus den sowjetischen Archiven mit einigem Geschick doch zentrale Dokumente zur sowjetischen Militärpolitik zutage fördern lassen, demonstrierte unlängst Matthias Uhl: Die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlin-Krise 1958 bis 1962, München 2008.
Michael Ploetz