Nino Galetti: Der Bundestag als Bauherr in Berlin. Ideen, Konzepte, Entscheidungen zur politischen Architektur (1991-1998) (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 152), Düsseldorf: Droste 2008, 411 S., ISBN 978-3-7700-5287-5, EUR 74,00
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Zwanzig Jahre ist es her, dass eine bisher nicht da gewesene Koinzidenz in Europa beobachtet werden konnte: Während im Sommer 1989 die überaus groß dimensionierten Feierlichkeiten in Paris zum bicentenaire der Französischen Revolution vor den monumentalen Kulissen der Mitterrandschen Grands Projets zur Aufführung kamen, kündigten sich in Mitteleuropa andere revolutionäre Umwälzungen und der Fall des Eisernen Vorhangs an. Ob das runde Jubiläum des Bastille-Sturms den politischen Willen zum Wandel in Ungarn, Prag und Leipzig befördert hat, muss dahingestellt bleiben. Unzweifelhaft ist indes, dass sich die internationale Aufmerksamkeit rasch von Paris gen Osten wandte, was dem sich politischer Symbolik so sicher, gern und reichlich bedienenden François Mitterrand nicht gefallen konnte. Bedeutsam in unserem Zusammenhang ist jedoch, welche architektonischen Zusammenhänge damit verbunden waren: Mitterrand veränderte durch die repräsentativen Kultur- und Staatsbauten für den bicentenaire die französische Hauptstadt in einem für das 20. Jahrhundert ungekannten Maß. Begleitet wurde dies in der deutschen Presse nicht selten mit Ironie und Häme - sei es aus uneingestandener Bewunderung oder auch aus Neidgefühlen heraus.
Nach dem Fall der Mauer im Herbst 1989, nach der raschen Vereinigung beider deutscher Staaten 1990 und nicht zuletzt nach dem Bundestagsbeschluss vom 20. Juni 1991, Berlin zur Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands zu machen, sah sich die hiesige Politik nun einer ganz ähnlichen Aufgabenstellung gegenüber, wenn auch in etwas anderer Größenordnung: Wie ließ sich politisch-zeichenhafte und zeitgemäß-qualitätvolle Architektur in Dimensionen errichten, die gleichermaßen den repräsentativen Erwartungen eines vergrößerten Landes in postmodernen Zeiten wie auch den urbanistischen Erfordernissen einer zerrissenen Stadt genügte? Welche administrativen Weichenstellungen und Prozesse waren nötig, um den ästhetischen Ansprüchen und politischen Bedingungen gerecht zu werden? Konnte aus den jüngsten Bonner Erfahrungen gelernt werden - denn immerhin war Günter Behnischs neuer Plenarsaal am Rhein im Jahr 1992 kurz vor seiner Eröffnung? Sollte man sich endgültig von der politisch gewollten Attitüde des Understatements im "ewigen Provisorium am Rhein" distanzieren und endlich selbstbewusst zu anderen politischen Metropolen aufschließen? Und schließlich: wie sollte dies gelingen, mit welchen politischen Schritten und Entscheidungsstrukturen war das zu bewerkstelligen?
Diese Fragen verfolgt und erhellt Nino Galetti in seiner im Jahr 2005 in Bonn abgeschlossenen Dissertation. Für die im Jahr 2008 in ansprechender Form publizierte politikwissenschaftliche Studie erhielt er im März 2009 auch den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages. Das Buch fokussiert ausdrücklich nicht die architekturtheoretischen Aspekte, wie eine Reihe vergleichbarer Studien. [1] Vielmehr konzentriert es sich explizit darauf, die öffentlichen Diskussions- und politischen Entscheidungsprozesse oder -wege zu erhellen, die zu den architektonischen Ergebnissen führten, wie wir sie heute vor uns sehen.
Für die Fragestellung seiner "zeitgeschichtlich ausgerichteten politikwissenschaftlichen Studie" (12) - tatsächlich ist Galettis Dokumentation eine ausführliche Planungs- und Baugeschichte des Berliner Reichstags - rückt Galetti zwei Strukturen in den Mittelpunkt. Es sind dies die beiden Kommissionen für den Regierungsumzug. Sie wurden durch den für die inneren Angelegenheiten des Bundestages zuständigen Ältestenrat eingesetzt und sollten sich mit unterschiedlichen Aufträgen und Zielsetzungen des Umzugsbeschlusses befassen: Zum einen die Konzeptkommission für die strukturellen, organisatorischen, finanziellen und sozialen Belange des Regierungsumzuges; zum anderen die Baukommission zur Klärung des Nutzungs- und Neubaubedarfs sowie seiner baulichen Umsetzung. In Nino Galettis analytischem Fokus steht nun, wie sich diese beiden Kommissionen im Laufe ihrer Arbeit den Problemen annäherten, auf welchen Wegen Meinungs- und Entscheidungsfindungsprozesse verliefen und wie durch sie der ungeheuren logistischen und technischen Herausforderung begegnet werden sollte.
Der Autor gliedert dafür seine Untersuchung in acht Kapitel: In den ersten beiden nimmt er sich der Geschichte des handelnden Bauherrn-"Subjekts" Bundestag und des zu verändernden Bau-"Objekts" Reichstag an. Darin wird zunächst zum einen die Architekturgeschichte der Bonner Regierungsbauten vor dem Hintergrund ihres politischen Entscheidungsprozesses befragt, zum anderen auch die Geschichte des Berliner Reichstags. Sie bilden nach Galetti die Rahmenbedingungen für beide neu eingesetzten Kommissionen. Das dritte Kapitel dokumentiert die Phase der Ungewissheiten zwischen dem Fall der Mauer und der Konstituierung der beiden Kommissionen im Herbst 1991 sowie die heterogenen Argumente und Reaktionen auf politische Überlegungen zum Regierungsumzug. Eine "zeithistorische Prozessanalyse" (15) erhellt im Anschluss daran die Arbeit der Kommissionen in der 14. Wahlperiode von 1991 bis 1994. Dieses vierte Kapitel konkretisiert die Argumente, die Diskussionen und ihre Akteure, bevor das fünfte die Entscheidungen der Konzeptkommission für das genaue Vorgehen der Neubauplanungen darstellt, die wiederum im sechsten Teil analysiert werden. Die letzten beiden Abschnitte widmen sich der 15. Legislaturperiode bis 1998. Darin werden die veränderten Handlungsträger und deren Arbeitsweise sowie schließlich die Diskussionen und Entscheidungen zum Umbau des Reichstagsgebäudes diskutiert, bevor im Schlusskapitel alle Teilergebnisse einer Bewertung unterzogen werden. Im Zentrum steht dabei für Galetti die Frage, "warum der Bundestag in Berlin erreicht hat, was in Bonn nicht gelungen ist: ein repräsentatives und zweckmäßiges Parlamentsviertel zu errichten." (15) Wobei die Frage einfach zu beantworten wäre: Ort, Zeit, Situation und Kontext waren völlig andere als 1990 in Berlin.
Liest man Galettis Chronologie der politischen Kämpfe und Entscheidungen zu dem, was heute in Berlin an explizit politischer Architektur vorgefunden werden kann, so weicht die anfängliche Skepsis gegenüber einer allzu trockenen Darstellung politisch-administrativer Prozesse sehr rasch. Denn es ist äußerst erhellend und anregend, sich die politischen Debatten im Bonner Wasserwerk oder die eklatanten Fehleinschätzungen und grandiosen Irrtümer (306ff.) der sogenannten Fachleute in Kommissionen und Feuilletons noch einmal zu vergegenwärtigen - etwa im Streit um die Kuppel des Reichstagsgebäudes (302ff.).
Jedoch: trotz dieser spannenden Rekapitulation der Diskussionen erscheint es so, als dokumentierte Galetti mehr die Feuilletons der großen überregionalen Zeitungen - meist leider anonym, ohne deren mitunter namhafte Autoren -, als dass er die politischen Prozesse aus den Archivalien der öffentlichen Institutionen und Protokollen differenziert analysiert. Dies ist zwar spannender zu lesen, allerdings ist die Verquickung beider Ebenen methodisch problematisch. Aber das muss wohl in Kauf genommen werden, will man eine entsprechend gut lesbare Darstellung vorlegen.
Bei der Betrachtung der gebauten Ergebnisse in Berlin aus der zeitlichen Distanz fallen neben der historistischen Attitüde der neuen Steinfassaden vor allem die zahlreichen Fehler und missglückten Beispiele ins Auge. Dazu gehören die heute reichlich schäbig wirkenden, brandmauerähnlichen Armstümpfe der Seitenriegel an der Schauseite des Kanzleramtes, das beschnittene Vordach und die abstürzenden Stahlträger des Hauptbahnhofs oder, ganz aktuell, einige erschütternd neo-totalitär wirkenden Entwürfe für den Erweiterungsbau des Bodemuseums. Aus dieser Warte rückt dann noch einmal das, was in den achtziger und neunziger Jahren in Paris geschaffen wurde, in ein neues, positives Licht.
Anmerkung:
[1] Um nur wenige zu nennen: Bernhard Schulz: Der Reichstag, München / London / New York 2000; Falk Jaeger: Architektur für das neue Jahrtausend, Stuttgart / München 2001; Heinrich Wefing: Kulisse der Macht, Stuttgart / München 2002.
Ernst Seidl