Jack S. Levy / William R. Thompson: Causes of War, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2010, VI + 281 S., ISBN 978-1-4051-7559-3, GBP 19,99
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Über die Ursachen von Kriegen hätte man gern ein für alle Mal die wichtigsten Dinge erfahren, und wenn Politikwissenschaftler am Werk sind, ließe sich ja auch befürchten, dass sie diese nun endlich gefunden hätten - in einem komplexen theoretischen Rahmen, der immer weiter verfeinert werden müsse. Das ist hier aber glücklicherweise nicht der Fall. Zwei ausgezeichnete Spezialisten der 'international relations theory' aus den USA, beide ehemalige Präsidenten der International Studies Association, legen hier ein Textbook vor, das weit über die Zielgruppe von Studierenden zur Einführung auch den Fachwissenschaftlern einiges bieten kann, so auch Historikern, die sich für Internationale Geschichte interessieren. "We have focussed on some of the most influential theories on the origins of the causes of war and conditions for peace advanced by international relations theorists"; herangezogen wurden außerdem einige Arbeiten anderer Disziplinen (205).
Sie beginnen mit einer Begriffsbestimmung von Krieg und dessen Wandel zumal in jüngerer Zeit, um dann - mit Kenneth Waltz von 1959 - das level-of-analysis-Prinzip (man könnte Ansatzhöhen oder Analyseebenen übersetzen) als ihr Gliederungsprinzip zu erläutern. Demgemäß werden die Theorienbündel je nach individuellem, nationalstaatlichem oder systemischem Ansatz geordnet, sprich: Die meisten Theorien weisen je nach "level" unterschiedliche Ausprägungen auf. Ganz konkret handelt man z.B. von Hitler, vom deutschen Staat oder vom im Prinzip anarchischen internationalen System.
Das wiederum wird in insgesamt acht größeren Kapiteln für system level theories, die dyadische Interaktion von Staaten, Staat und gesellschaftlicher Ebene, decision-making auf der individuellen Ebene, decision-making auf der organisatorischen Ebene und schließlich für Bürgerkriege ausgeführt. Gerade letzteres Thema ist ein Ausfluss der von den Verfassern beobachteten Entwicklung einer zunehmenden Annäherung der zwischenstaatlichen und der innerstaatlichen Kriege; Mary Kaldor (1999) oder auch Herfried Münkler (2004) dienen hier als Gewährspersonen.
Diese Aufzählung von Themenfeldern klingt insgesamt recht abstrakt, aber die Autoren leisten zweierlei: Einerseits versuchen sie immer wieder, empirische Belege oder Erläuterungen für eine These, eine Annahme oder ein Modell beizubringen, andererseits streben sie keine Vollständigkeit für Theorien an, sondern wählen gezielt aus. Das bringt immer noch eine große Vielfalt, welche sie zu bündeln wissen.
Es ist wohl kein Zufall, dass die "realistische Theorie" in all ihren verzweigten Ausprägungen und Verfeinerungen bis hin zum "neoclassical realism" am Anfang steht. Sie wird auf der Systemebene gefolgt von balance-of-power-Ansätzen. Am spannendsten finde ich die Einbeziehung der gesellschaftlichen Ebene, die für Historiker wohl primär infrage kommen könnte. Sie beginnt mit Marxismus-Leninismus und seinen Kritikern, geht über zu Schumpeter, schreitet fort zu Koalitionstheorien (Außenpolitik entsteht aus Kompromissen unterschiedlicher gesellschaftlicher oder politischer Kräfte). Die "diversionary theory of war" handelt von der Ableitung innerer Probleme nach außen (hierzulande eher als Sozialimperialismus diskutiert). Schließlich landet sie bei den democratic peace-Theorien, für welche Levy selbst 1988 die klassisch gewordene Formulierung gefunden hatte, Demokratien führten untereinander keinen Krieg; dieser empirische Befunde komme einem sozialwissenschaftlichen Gesetz nahe. Für die Relevanz der beiden letzteren Theorien (diversionary und democratic peace) finden sie selbst viele gute Gründe, aber gerade der demokratische Frieden habe so viele Erklärungen gefunden: "The interdemocratic peace thus remains a strong empirical regularity in search of a theory to explain it" (208). Brauchen wir dann aber noch eine Theorie?
Gerade an diesem Punkt setzen empirische Bedenken eines Historikers an [1], aber die Autoren behaupten selbst auch gar nicht, Theorien müssten immer stimmen. Sie ziehen durchweg historisch-empirische Arbeiten zur Erläuterung ihrer Aussagen heran, die breit gestreut sind und zumeist klassisch gewordene Autoren umfassen. Wie üblich wird nur englischsprachige Forschung zur Kenntnis genommen, aber unter (übersetzten) deutschen Historikern finden sich immerhin Fritz Fischer (1961), Wehler (Kaiserreich von 1972), der Freiburger Gerhard Ritter. Da fragt man sich natürlich, ob und wie die weitere Forschung gerade diese Ansätze nicht mehr so leicht als Beleg für weitreichende Theorien stehen lassen kann.
Im Schluss widmen sich die Autoren ausdrücklich dem Verhältnis von theoretischer Generalisierung und historischer Deutung. "Most historians tend to see historical events as unique and aim to provide 'total' explanations of individual cases. They tend to be relatively uninterested in constructing general theories, and sceptical about the very possibility of a single, widely accepted theory" (214) - die Sozialwissenschaftler dagegen strebten nach Theorien, die aber je auch Ausnahmen kennen könnten. Das trifft wohl weitgehend zu. Die Frage stellt sich nur nach den Verbindungsstücken zwischen beiden Wissenschaften. Aus der Sicht eines Historikers würde dies bedeuten, dass Modelle und Typologien sehr anregend und willkommen sein können, aber doch eher Richtungen von Untersuchungen und Deutungen angeben als eine Verifizierung oder Weiterentwicklung von Theorien anstreben.
Levy und Thompson ist zu bescheinigen, dass sie immer auf die empirische Absicherung ausgerichtet sind, ja bisweilen in eine historische Narratio verfallen, in welche die Aufzählung von Theorien und Modellen gleichsam eingespeist wird. Was besticht, ist jedenfalls die Fülle an gebündelten, dann aber doch differenzierten Ansätzen, die sich nicht zuletzt in 41 Seiten Literaturverzeichnis niederschlagen. Die Autoren sind immer fair in der Vorstellung, äußern nur am Rande Bedenken oder Kritik. Ihrem Fazit ist zuzustimmen, es könne nicht nur eine Theorie geben, sondern: "social scientist are increasingly coming around to the view that the application of several different models to a given question is likely to likely increase our understanding of a phenomenon" (217). Da wären wir nahe an singularisierenden Historikern dran, die sich ebenfalls vielfältiger Modelle zu diesem Zweck bedienen.
Eine Kritik muss aber bei allem Lob für den bis in viele Details reichenden Adlerblick von Levy und Thompson dennoch angebracht werden: Ganz im Vordergrund stehen immer noch der Staat und seine Politiker als Akteure. Die empirischen Überprüfungen tendieren dazu, quantifizierenden Verfahren einen Vorrang zu geben und damit einer problematischen Kodifizierung - etwa vom correlates-of-war-Datensatz. Die Autoren sind sich bewusst, dass Begriffe Konstruktionen sind (15), neigen aber doch gelegentlich zu Reifizierungen: "Die Theorie" sagt dies oder jenes; damit erhält das Konstrukt materielle Realität zugemessen. Und weiter: Der Fokus auf Kriegsursachen klammert kulturelle Faktoren, klammert die zunehmende Transnationalisierung oder auch Globalisierung weitgehend aus. Da sind die Historiker internationaler Beziehungen oder internationaler Geschichte um die US-amerikanische SHAFR (Zeitschrift "Diplomatic History"), aber auch einige Ansätze hierzulande schon ein Stück weiter.
Anmerkung:
[1] Zur Historisierung der democratic-peace-These demnächst: Jost Dülffer / Gottfried Niedhart (Hgg.): Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters (= Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung), Essen 2010.
Jost Dülffer