Richard F. Hamilton / Holger H. Herwig (eds.): War Planning 1914, Cambridge: Cambridge University Press 2010, IX + 269 S., ISBN 978-0-521-11096-9, GBP 50,00
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Seit der Veröffentlichung des epochalen Werkes Gerhard Ritters über den Schlieffenplan im Jahr 1956 schien es in der Geschichtswissenschaft eine nicht zu bestreitende Gewissheit zu geben: Die kulturellen wie strukturellen Differenzen des militaristischen Deutschen Reiches von seinen westlichen Nachbarn kristallisierten sich vor dem Ersten Weltkrieg in dessen militärischer Planung. Der Reichweite des Themas sowie der Brisanz der These zum Trotz wurde dem Untersuchungsgegenstand in der Folge kaum Aufmerksamkeit geschenkt, einzig Paul M. Kennedy sowie John H. Maurer widmeten sich in größeren Arbeiten der Thematik in komparativer, multinationaler Perspektive.[1] Weder Militär- noch Diplomatiehistoriker zeigten sich interessiert, schien die Faktenlage doch zu eindeutig; so kam die Forschung in der Folge nur schleppend voran. Zwei amerikanische Historiker sorgten nach der Jahrtausendwende dafür, dass sich dieser Zustand abrupt änderte. Im Jahr 2002 wurde die von Terence Zuber verfasste Dissertation "Inventing the Schlieffenplan" veröffentlicht, welche die Existenz eines Schlieffenplanes, damit aber auch seiner politischen Folgen für die Führung des Deutschen Reiches zu Gunsten eines Defensivplanes bestritt. Nur ein Jahr später bemerkte Robert A. Doughty der französische Plan XVII sei "Joffre's Own" gewesen, eine zivil-militärische Koordination habe niemals stattgefunden.[2]
Vor dem Hintergrund dieses neuerwachten Forschungsinteresses an der zivil-militärischen Planungskoordination im Europa der Vorkriegszeit fand im Jahr 2005 an der Ohio State University eine Konferenz zum Thema "War Planning 1914" statt, welche unter der Federführung Richard F. Hamiltons sowie Holger H. Herwigs sechs führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Militärplanungen Österreichs-Ungarns, Deutschlands, Russlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens zusammenbrachte. Die Ergebnisse dieser Tagung wurden nun in Buchform vorgelegt.
Die Kernfrage, welcher sich alle sechs Referenten in ihren Beiträgen widmen, lautet: "The aim is to examine the planning processes and the resulting plans of the six major European powers [...] Did coordination actually occur? And if it did, what was the result?" (7/8). Dabei stellen die Herausgeber klar, dass unter "war planning" ein fortlaufender Prozess zu verstehen ist, ganz im Gegensatz zu einem finalen Kriegsplan, einem "war plan"(2/3). Diese Differenzierung beeinflusst den inhaltlichen Fokus der Arbeit erheblich. Die einzelnen Beiträge konzentrieren sich jeweils auf eine Zeitspanne von ungefähr 45 Jahren, 1870-1914. Es wird untersucht, wie sich die Pläne veränderten, welchen externen Faktoren (Ideologien, Gefahrenperzeptionen, innen- wie außenpolitischen Konstellationen) sie unterlagen. Zuletzt zeigen alle Autoren auf, in welchem Maße sich die Planungen bei Kriegsausbruch 1914 zu behaupten vermochten.
Günther Kronenbitter schildert zunächst die Situation Österreich-Ungarns und stellt dabei erhebliche Gemeinsamkeiten im strategischen Denken des Generalstabes mit seinem deutschen Pendant fest (37). Beiden sei die Notwendigkeit klar gewesen, mit unterlegenen Kräften gegen einen zahlenmäßig stärkeren Feind an zwei, in Österreich-Ungarns Fall sogar an drei Fronten zu kämpfen (33). Beide besaßen ein identisches Lösungsrezept: Die Umwandlung eines Zweifrontenkriegs zu einem konsekutiven zwei-mal-ein Frontenkrieg (33).
Diese Planung geschah in beiden Ländern jenseits der Politik und ohne jegliche Koordination mit derselben (47). Letztlich, so stellt Kronenbitter fest, passte Österreich-Ungarns politischer Anspruch einer Großmacht in keinster Weise mehr zu seiner militärischen Stellung und das Militär musste daher in der Folge ein aussichtsloses va banque-Spiel betreiben (47).
Den wohl problematischsten Beitrag des Bandes liefert Annika Mombauer mit ihrer Darstellung der deutschen Kriegsplanung. Zu Beginn erklärt die Autorin, Deutschlands Untergang sei nicht zwangsläufig, sein Schicksal nach dem Abgang Otto von Bismarcks jedoch besiegelt gewesen (48). Des Weiteren habe ein "profound influence of certain military leaders and ideed of all things military" (48) zu seinem Untergang beigetragen, eine Folgerung, deren Eindeutigkeit die neuere Forschung zunehmend anzweifelt. Sodann folgt die Erklärung eines Verzichtes darauf, die Debatte um den Schlieffenplan weiterzuführen, anschließend wird diese als erschöpft bezeichnet (50). Zum Schlieffenplan selber erläutert sie: "[...] most educated citizens are likely to know "the basics" of Germany's war plan." (49) Die anschließende Erläuterung lässt wenig davon vermuten, dass es jemals eine Schlieffenplandebatte gegeben hat. "In December 1905, the basic premise of Schlieffen's strategic thinking became a blueprint for his successor, the younger Moltke." (53) Des Weiteren "The campaign was predicated on speed: Paris had to fall and the French armies be destroyed by the 39th or 40th day of mobilization." (53) Die Anpassungen Moltkes an den Plan seines Vorgängers, die Notwendigkeit flexibler zu operieren, sowie eine Verstärkung der russischen Front (64) werden anschließend erläutert. Zu kritisieren ist an dieser Darstellung in erster Linie die Unausgewogenheit des Militarismusvorwurfes. Die Autorin hält ihre Eingangs getroffene Feststellung nicht ein und polemisiert gegen Terence Zuber (61) ohne dessen These neutral darzustellen. Im Wesentlichen folgt sie der Darstellung Gerhard Ritters und stellt damit ein Bild des Schlieffenplanes dar, welches Zuber zurecht als "große Pfeile auf kleinen Karten" [3] bezeichnet hat. Das Postulat die Debatte um den Schlieffenplan sei abgeschlossen führt zu einer Eindeutigkeit, welche die schwelende Forschungsdebatte keineswegs rechtfertigt. Dies erweist sich für die Qualität des Beitrages als schwere Hypothek.
Einen ebenfalls kontroversen Beitrag leistet Keith Neilson mit seiner Darstellung der englischen Kriegspläne. Während der Autor eingangs schreibt, England habe so etwas wie einen festen "war plan" nicht besessen (175/178), da die britische Regierung den Streit zwischen der Admiralität und dem Heer keineswegs zu einer Lösung brachte (188), liegt der eigentliche Kern des Beitrages darin zu zeigen, dass Großbritannien seiner militärischen Planungen mit Frankreich zum Trotz zu keinem Zeitpunkt an dieses gebunden gewesen sei (197). Der Versuch Niall Ferguson in diesem Punkt zu widerlegen bleibt dabei jedoch auf der formalen Ebene stehen und schafft es nicht überzeugend zu widerlegen, dass England sich faktisch, wenn auch nicht juristisch, seit 1911 festgelegt hatte, Frankreich im Falle eines deutschen Angriffes zu unterstützen.
Der Sammelband bietet, den geschilderten Schwächen zum Trotz, einen gut lesbaren Überblick über die militärische Planung der Zeit zwischen 1870 und 1914 in den Armeen der sechs Großmächte Europas. Als besonders fruchtbar erweist sich der komparative Ansatz des Buches, da er es vermag europäische Besonderheiten und Gemeinsamkeiten zu beleuchten, was neue Argumente gegen Sonderwegsthesen liefert.
Anmerkungen:
[1] Paul M. Kennedy: The War Plans of the Great Powers, 1880-1914. London 1979. Sowie: John H. Mauerer: The Outbrake of the First World War : Strategic Planning, Crisis Decision Making, and Deterrence Failure. Westpoint 1995.
[2] Robert A. Doughty: French Strategy in 1914: Joffre's Own. In: Journal of Military History, 67 (April 2003), 427-454.
[3] Terence Zuber: Der Mythos vom Schlieffenpan. In: Hans Ehlert (Hrsg.): Der Schlieffenplan. Paderborn 2006, 69.
Jörg van den Heuvel