Holger Berg: Military Occupation under the Eyes of the Lord. Studies in Erfurt during the Thirty Years War (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 103), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 395 S., ISBN 978-3-525-56455-4, EUR 69,00
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Zu den wichtigen Desideraten der Erforschung des Dreißigjährigen Krieges zählt nach wie vor eine umfassende Mentalitätsgeschichte der Akteure und Betroffenen. Einen konkreten Beitrag dazu hat nun Holger Berg vorgelegt. Der Autor kennzeichnet seine Arbeit als "community study" (Gemeindestudie), wobei "community" so verstanden wird, dass nicht die politisch-administrative Einheit "Gemeinde" in den Blickpunkt rückt, sondern in einem allgemeineren Sinne werden hier Gemeinschaften von Menschen erfasst, deren städtischer und kirchlicher Lebensalltag miteinander verbunden war. Angestrebt ist somit kein Beitrag zur Erfurter Stadtgeschichte - obwohl die Arbeit auch unter diesem Gesichtspunkt mit Nutzen gelesen werden kann -, sondern es geht vor allem um den größeren Forschungszusammenhang der religiösen Prägung und Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges.
Das Verdienst der Arbeit ist es, in vergleichender Perspektive zwei ganz unterschiedliche Quellengattungen, nämlich Predigten und Chroniken, auf die übergeordnete Fragestellung hin zu untersuchen, wie der sämtliche Dimensionen sprengende Krieg von Geistlichen und Laien konkret wahrgenommen wurde. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1631-1650, in denen das bikonfessionelle Erfurt schwedisch besetzt war. Wie erfuhren und bewältigten die Zeitgenossen die Tatsache, dass sie mit einem Krieg konfrontiert wurden, der kein Ende zu nehmen schien und der auch und gerade als Strafe Gottes verstanden wurde? Und welche theologischen Konsequenzen hatte diese apokalyptisch anmutende Kriegserfahrung?
Die einleitenden Kapitel positionieren die Arbeit im Hinblick auf die einschlägigen jüngeren Forschungsströmungen und legen die Quellenauswahl dar. Zu erwähnen sind in diesem Kontext insbesondere historisch-anthropologische und sozialpsychologische Ansätze, Forschungen zu Ego-Dokumenten, das Konfessionalisierungsparadigma, die vieldiskutierte Krise des 17. Jahrhunderts und namentlich auch der Tübinger Sonderforschungsbereich zu neuzeitlichen Kriegserfahrungen. Es folgt eine ausführliche Schilderung der politischen und militärischen Rahmenbedingungen. Dabei ist festzuhalten, dass Erfurt sehr wohl Epidemien, Flüchtlingswellen sowie militärische Belagerung und Besatzung überstehen musste. Die Stadt war aber immerhin aufgrund ihrer Fortifikationen nach 1635 vor auswärtigen Feinden vergleichsweise geschützt.
Als ergiebig erweist sich einer der inhaltlichen Schwerpunkte der Quellenauswahl. Der Autor verknüpft nämlich die Diskussion über die religiösen Auswirkungen des Krieges und die sich daran anschließende Frage, inwiefern die Zeitgenossen Zeichen göttlicher Intervention zu erkennen glaubten, mit einer Untersuchung der Wahrnehmung von Wundern und Omen, wie zum Beispiel Himmelserscheinungen, die blutrote Färbung von Wasser oder auch mönströse Kindsgeburten. Derartige Prodigien und Vorzeichen wurden bezeichnenderweise besonders in denjenigen Kriegsphasen erwähnt, in denen sich konkrete militärische Gefahren für die Stadt abzeichneten, wobei es durchaus Auseinandersetzungen darüber gab, wer die Deutungshoheit besaß: die geistlichen oder die weltlichen Autoritäten, die Katholiken oder die Lutheraner? Geburten von deformierten Kindern wurden etwa als Verkörperungen göttlicher Warnungen oder aber auch als Manifestationen sündhaften Verhaltens, besonders der Eltern, verstanden; und die Rotfärbung von Wasser galt gemeinhin als Zeichen göttlichen Zorns. Wichtig ist dem Autor in diesem Zusammenhang nicht der Nachweis, dass derartige Zeichen als Interventionen Gottes galten, sondern ihn interessiert vor allem die Frage, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen wurden.
Dementsprechend zielt ein Hauptkapitel der Arbeit darauf ab, die theologischen Debatten über die Begleiterscheinungen des Krieges und die daraus zu ziehenden Konsequenzen aufzuzeigen. Anhand von drei Erfurter Protagonisten der lutherischen Reformdiskussionen, nämlich den Pastoren Bartholomäus Elsner, Nicolaus Stenger und Zacharias Hogel, wird demonstriert, welch breites Spektrum die Postulate der um Reformen ringenden Beteiligten umfassten. Viele Reformwillige einte beispielsweise die Überzeugung, dass auch Geistliche mitverantwortlich für die angeprangerten Zustände moralischer Korruption und religiöser Indifferenz der Gemeindemitglieder seien und dass dringend kollektive Buße erforderlich sei. Ein genauer Blick auf die zugrunde liegenden Prämissen und die Schlussfolgerungen, die aus dem attestierten besorgniserregenden Zustand der Kirchendisziplin gezogen werden sollten, offenbart allerdings auch fundamentale Deutungsunterschiede. Beispielhaft genannt sei an dieser Stelle die radikal-militante Überzeugung Zacharias Hogels, göttliche Vorbedingung für einen wahren und dauerhaften Frieden sei die Zerstörung Roms!
Die aus den Kriegserfahrungen resultierenden Aufforderungen, in umfassender Form Buße zu leisten und den kirchlichen Pflichten nachzukommen, konnten durchaus in einem Spannungsverhältnis zu den alltäglichen Erfordernissen des Überlebens inmitten der Kriegswirren stehen. Gerade kirchliche Veranstaltungen außerhalb der Sonn- und Feiertage (zum Beispiel Betstunden) wurden oftmals nicht zur Zufriedenheit der Pastoren frequentiert, da die Gemeindemitglieder infolge überlebensnotwendiger Arbeiten mitunter schlicht und einfach unabkömmlich waren. Insgesamt erweist es sich in diesem Zusammenhang, dass die Pastoren in vielerlei Hinsicht als moralische Wächter fungierten und dass sie damit eine Aufgabe erfüllten, die in ganz ähnlicher Weise von den Stadtchronisten ausgeübt wurde. Es ging ihnen nicht darum, Sündenböcke zu kreieren oder für die Kriegsmisere zur Verantwortung zu ziehen, sondern Predigten und Chroniken waren oftmals von dem Bemühen durchdrungen, die Menschen dahin zu bringen, die persönliche Verantwortung für die eigenen Leiden zu akzeptieren und Buße zu tun.
Zu den Vorzügen der Arbeit zählen die breite Quellen- und Literaturgrundlage sowie der insgesamt gesehen gelungene Versuch, unterschiedliche Quellen, Themen und Forschungsansätze miteinander in Einklang zu bringen. Sie kann gelesen werden als Beitrag zu den theologischen Reformen im Luthertum des 17. Jahrhunderts, als historisch-anthropologische Fallstudie zur Wahrnehmung von Prodigien und Omen, als vergleichende Analyse von Predigten und städtischen Chroniken, und nicht zuletzt ist die Arbeit auch von stadtgeschichtlichem Interesse. Um abschließend noch einmal auf das erwähnte Fehlen einer großangelegten Mentalitätsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges zurückzukommen: Die vorliegende Arbeit ist ein Beispiel dafür, wie in diesem Forschungskontext vergleichsweise heterogene Ingredienzien zu einem funktionierenden Ganzen gebracht werden können. Dies sollte Anregung genug dafür sein, dass sich die Forschung auf diesem wichtigen Terrain mit dem Ziel einer umfassenden Synthese weiter voranarbeitet.
Michael Rohrschneider