Anna-Katharina Gisbertz: Stimmung - Leib - Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne, München: Wilhelm Fink 2009, 180 S., ISBN 978-3-7705-4855-2, EUR 24,90
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Der Stimmungsbegriff hat Konjunktur. Es mehren sich Tagungen und Publikationen, die diesem schillernden Begriff gewidmet sind. Die "Stimmung" als ein flüchtiger, diffuser Gefühlszustand ist genuin bedeutungsoffen und bietet sich damit geradezu an für interdisziplinäre Debatten. Es wundert nicht, dass es beinahe eben so viele Stimmungsdefinitionen wie Disziplinen gibt, die sich in zunehmendem Maße des Begriffes befleißigen. Neben der Psychologie, Physiologie, Philosophie, Germanistik und jüngst auch der Kunstwissenschaft ist vor allem "die Bedeutungsdimension des Musikalischen [...] als semantische Ressource massiv präsent", wie David Wellbery bereits 2003 in seinem grundlegenden Artikel hervorhob. [1] Vor diesem Hintergrund zeigt sich auch die Ambivalenz des Begriffes, wenn sich 'Stimmung' nämlich allein im musikalischen Gebrauch auf nicht weniger als drei mögliche Semantiken beziehen lässt. [2] Die Wiederkehr der 'Stimmung' im ästhetischen Diskurs rekurriert mit so unterschiedlichen Begriffsinhalten wie der Vorbereitung, des Verhältnisses und der Disposition auf ein überaus breites und teilweise auch heterogenes Bedeutungspotential, das es am Anfang jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung umso präziser zu konkretisieren gilt.
Während die Begriffsgeschichte der 'Stimmung' im Kontext ästhetischer Theoriebildung bereits seit dem 18. Jahrhundert von vielen Sinnverschiebungen geprägt ist, bildet neben dem grundsätzlich präreflexiven Charakter des Stimmungsphänomens auch seine spezifische Verschränkung von subjektiven und objektiven Wirklichkeitsbereichen, von Gefühls- und Dingwelt einen semantischen Minimalkonsens. Verkürzt gefasst entfernt sich der Begriff entwicklungsgeschichtlich zwischen den klassischen Ästhetiken (Kant, Schiller, Humboldt) und modernen Auffassungen (Dilthey, Simmel) zunehmend vom Verständnis als objektivem, von außen zu beobachtendem Sachverhalt hin zur Ausbildung eines immer größeren Ichbezugs. Die Subjektivierung des Stimmungsbegriffes kulminiert in Hegels radikaler Verinnerlichungstheorie, derzufolge die Stimmung als das Innerste und Eigenste der Subjektivität gedacht wird und folglich mit dieser zusammenfällt. Infolge psychologischer Studien und neuer empirischer Untersuchungsmethoden wird am Ausgang des 19. Jahrhunderts jedoch die Einheit des Ichs obsolet, so dass die Stimmung unter anderen, neuen Vorzeichen interessant wird: jenseits von sprachlichen Schematisierungen treten hier nun unpersönliche, ungefilterte Zeit- und Lebensströme zutage, die einer Art überzeitlichem Gedächtnis entspringen und sich nicht kognitiv erschließen (Nietzsche). Es ist dieses mentale Umfeld bzw. besser: diese Stimmung um 1900, die nicht nur den geistesgeschichtlichen Bodensatz für eine neue 'Stimmungskunst', sondern auch das gedankliche Scharnier der vorliegenden Untersuchung bildet.
Die Literaturwissenschaftlerin Anna-Katharina Gisbertz macht die moderne "Ganzheitserfahrung" (11), die sich aus der oben geschilderten, stimmungsspezifischen Annäherung bzw. dem Zusammenfall von Subjekt und Objekt, Innen und Außen ergibt, zum Ausgangspunkt ihrer Analyse. Erklärtes Ziel ist die Rekonstruktion von Struktur und Funktion von Stimmungen um 1900. Wenngleich Gisbertz ihren Stimmungsbegriff mit Baudelaire einführt, soll dies jedoch anhand von Texten der Wiener Moderne aufgezeigt werden, da gerade hier der "doppelten Funktion" der Stimmung "eine fundamentale Bedeutung zukommt", die zudem auf einen "Strukturwandel" zurückzuführen sei (12). Die Relevanz des Stimmungsbegriffes im Fin de siècle macht die Verfasserin dabei an der verstärkten Ablösung von metaphysischen Deutungsmodellen und der Suche nach eher empirischen Weltzugängen fest. Ihre These lautet, dass Stimmung als "einfühlsame Teilhabe am Weltgeschehen" (12) einerseits in einer verunsicherten und von der Auflösung überkommener Sinnzusammenhänge geprägten Welt eine orientierungsstiftende Funktion einnimmt. Andererseits - und hier zeigt sich ihre Ambivalenz - verdeutliche sich in der Unfassbarkeit und Vielschichtigkeit der Stimmung immer auch eine verwirrende Komplexität und Unübersichtlichkeit, die das Seiende als bloße Möglichkeit erscheinen ließe. Die Erfahrung von Kontingenz und Pluralität in einer modernen Welt bildet damit eine weitere Funktion von Stimmung.
Zunächst entfaltet Gisbertz die allgemeine Stimmungslage um 1900 beispielhaft an Schriften von Bollnow, Nietzsche, Dilthey und Heidegger. Als erstes Fazit konstatiert die Verfasserin, dass "die durch die Stimmung evozierte Einheit von Ich und Welt um 1900, die zunehmend als Desiderat beklagt wird, im Bereich der leiblichen und ästhetischen Erfahrung offenbar zurückkehrt" (48).
Die nachfolgenden Kapitel fokussieren die Wiener Moderne, deren "Stimmungskonzept" die Autorin mit Schriften von Ernst Mach und Hugo von Hofmannsthal näher zu spezifizieren sucht. Die Wahl von sowohl wissenschaftlichen Texten des Physikers und Philosophen Mach als auch von Literaturtheorie und Prosa Hugo von Hofmannsthals ist Programm, geht es der Verfasserin in der Zusammenschau unterschiedlicher Diskurse doch gerade um den Aufweis gemeinsamer Strukturen und Funktionen von Stimmung in den Einzeldisziplinen. Zudem ist "die Frage zentral, wie sich die Stimmungen in verschiedenen Ausdrucksweisen manifestieren." (21) Machs monistische, empiriokritizistische Erkenntnistheorie erscheint als Prototyp eines "konzeptuellen Wandel[s] der Wahrnehmung zu Beginn der Moderne" (23), der das Subjekt der Wahrnehmung nicht länger als Voraussetzung sinnlicher Wahrnehmung vorstellt, sondern vielmehr als deren Ergebnis. Stimmung wird gemäß der sinnesphysiologischen Tradition nicht länger als Brücke zwischen äußeren Wahrnehmungen und inneren Empfindungen verstanden, sondern als ein "Integral, das sich aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Übergängen konstituiert, die gleichzeitig aufeinander wirken" (97).
Diese komplexen Vernetzungsprozesse bleiben notwendig unbestimmt und motivieren die Metapher des 'Gewebes'. Machs revolutionäre These vom 'unrettbaren Ich' [3] findet Parallelen in Hofmannsthals Poetik, wie Gisbertz weiter ausführt. Auch hier zeige sich, "dass das Streben nach Einheit, das den Ausgangspunkt ihrer jeweiligen Arbeiten bildet, in einen epistemologischen Zirkel mündet, weil anstelle von definitiven Erklärungen ein metaphorisches Verhältnis zum Gegenstand tritt" (23). Die Erfahrung von Einheit erfolge in Hofmannsthals literaturtheoretischen Reflexionen durch die Destruktion normativer Begriffe und in seiner frühen "Stimmungsprosa" durch eine spezifische "Konfiguration aus Stimmung, Leib und poetischer Sprache" (24). Im Gegensatz zu einem von außen an die Phänomene herangetragenen Gebrauch wird 'Stimmung' hier wesentlich als ein innerer, durch die Sprache des Dichters evozierter seelischer Zustand vorgestellt, der jeweils nur in dieser je einen Komposition existiert.
Während einzelne Kapitel teilweise mit einem separaten, leserfreundlichen Fazit abschließen, unterbleibt eine resümierende Zusammenfassung am Ende der Studie. Dies ist umso bedauerlicher, als dass die Untersuchung damit nicht nur unvermittelt endet, sondern auch einen kritischen Rückblick vermissen lässt. Welchen Erkenntniswert hat der Begriff der Stimmung als ästhetische Kategorie? Ist 'Stimmung' als überkomplexe, vorsprachliche Größe tragfähig für den wissenschaftlichen Diskurs oder muss dieser Versuch nicht zwangsläufig scheitern? Wie lässt sich Mehrdeutigkeit als Potential nutzen? Lässt sich ein so vielgestaltiges Gefüge wie die Wiener Moderne am Beispiel von nur zwei Akteuren (Mach, Hofmannsthal) überzeugend darstellen? Was ist das Besondere der Wiener Moderne in Abgrenzung zu anderen Metropolen um 1900? Wie verhält es sich mit den okkultistisch-spiritistischen Subtexten, wenn hier die Moderne um 1900 einseitig als Ablösung von metaphysischen Denkmodellen gekennzeichnet wird?
Die Arbeit, die als Dissertation zur Erlangung eines Ph.D. an der University of Chicago angenommen worden ist, trägt unverkennbar die Züge ihres Betreuers, David E. Wellbery. Die Auswahl der in Einzelanalysen näher untersuchten Denker und Schriften scheint wie die Terminologie maßgeblich von Wellberys grundlegendem Artikel beeinflusst, so dass es kaum verwundert, dass selbst der Titel "Stimmung - Leib - Sprache" dem zitierten Beitrag entnommen zu sein scheint (Anm. 1, 717). Thema und Umsetzung der Untersuchung bilden damit eine partielle Exemplifizierung von Wellberys Auffassungen und Thesen; sie sind demzufolge wenig originell.
Interessant wird die Studie besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Konzepte affizierender Ästhetik. Zu den Schlüsselbegriffen zählen hier neben Stimmung auch Atmosphäre und Affekt. Bedeutsam wird sie auch im Kontext der neuen Aktualität des Nichtbegrifflichen. Das, was sich nicht sagen lässt, weil es Gegenstand vorsprachlicher, zuständlicher oder unbewusster Erfahrungen ist, wird in zunehmendem Maße als andere Art von Wissensproduktion thematisiert. Das, was die Autorin Ernst Mach als produktive Leistung attestiert, muss auch ihr zugute gehalten werden, nämlich dass sie "etwas Unbestimmtes wie die Stimmung in den Fokus (ihrer) Wissenschaft rückt" (24). Inwieweit die vorbegriffliche Erkenntnismäßigkeit, die sich in der Stimmung äußert, aber tatsächlich als ein Spezifikum der Wiener Moderne angesehen werden kann oder mit Heidegger nicht eher als ein ursprünglicher Modus der Seinserschließung gelten muss, bleibt fraglich.
Anmerkungen:
[1] David E. Wellbery: Art. Stimmung, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, hgg. von Karlheinz Barck et al., Stuttgart / Weimar 2003, 703-733, 704.
[2] ders., a.a.O., 707.
[3] Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886), Darmstadt 1991, 20.
Ulli Seegers