Rezension über:

Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hgg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: C.H.Beck 2010, 800 S., 126 Abb., ISBN 978-3-406-60500-0, EUR 38,00
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Rezension von:
Reinhard Bingener
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Bingener: Rezension von: Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hgg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: C.H.Beck 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 12 [15.12.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/12/18716.html


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Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hgg.): Erinnerungsorte des Christentums

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Die Kunst des französischen Historikers Pierre Nora ist es nach den Worten von Fritz J. Raddatz, den Franzosen ihre Nation als "Teppich des Gedenkens" vorzustellen. Dass es ein Franzose war, der das Konzept der Erinnerungsorte populär machte, hält Raddatz nicht für einen Zufall: Anders als in Deutschland halte es dort ein Philosoph wie Roland Barthes nicht für unter seiner Würde, einen Essay über den Citroën DS als formvollendete "Kathedrale der Neuzeit" zu veröffentlichen. In Frankreich dürften Denker ganz unbefangen "Analytiker des Alltäglichen" sein.

Doch die von Drittmitteln befeuerte Konjunktur der Kulturwissenschaften scheint der Abschottung der deutschen Geisteswissenschaft gegen das Alltägliche zugesetzt zu haben - so stark, dass sich die beiden Herausgeber der Erinnerungsorte des Christentum, der Protestant Christoph Markschies und der Katholik Hubert Wolf, in ihrer Einleitung dazu gezwungen sehen, angesichts der Hochkonjunktur des Konzepts des Erinnerungsorte auch in Deutschland dem Verdacht vorzubauen, hier sprängen "auch noch die christliche Theologen auf den eigentlich schon längst abgefahrenen Zug der Erinnerungskultur" auf.

Das 800-Seiten-Werk rechtfertigen sie mit einem Hinweis auf seinen Gegenstand: Als Offenbarungsreligion sei das Christentum "nichts anderes als eine große Topographie von Erinnerungsorten". Eine These freilich, die die beiden Kirchenhistoriker wenige Seiten später mit einem überaus schlagenden Argument in Frage stellen: Demnach ist die Reformation auch als ein normativ motivierter Versuch aufzufassen, die Zahl der im Spätmittelalter reichlich vorhandenen Erinnerungsorte des Christentums zugunsten des einen, zentralen Erinnerungsort Jesus Christus zu reduzieren. Ähnliches habe später das Konzil von Trient für den Katholizismus versucht.

Mit den Erinnerungsorten des Christentums steht folglich zur Debatte, ob sich Identitätsstiftung einer Religion analog zu derjenigen einer Nation beschreiben lässt, wie es in den bereits seit längerem vorliegenden französischen oder deutschen Erinnerungsorten geschieht. Bislang wurde das Christentum - was man wiederum für Nationen zu keinem Zeitpunkt versuchte - in dogmatischen oder moralischen Kategorien vermessen.

Doch eben jene populären Beschreibungen des Christentums in normativer Absicht, wie sie seit vielen Jahren von Joseph Ratzinger und Hans Küng und seit wenigen von Wolfgang Huber in den Buchläden ausliegen, scheinen an Resonanz einzubüßen. Wenn der Eindruck nicht täuscht, wird die entstandene Lücke durch Beschreibungen gefüllt, die sich dem Christentum mit einem distanzierteren Gestus nähern und die Ambivalenz der Phänomene hervorheben.

Dazu zählen auch die Erinnerungsorte des Christentums. Denn um Fragen der Geltung kann und darf es beim Konzept der Erinnerungsorte freilich ebenso wenig gehen, wie sich das Konzept auf "Geschichte" beschränkt. Und genau darin dürften die Erinnerungsorte des Christentums den Nerv einer Zeit treffen, deren Bewusstsein zwar durchaus historisch geprägt ist - die aber kein historistisches Selbstvergewisserungsbedürfnis mehr zeigt.

So sind denn auch die lesenswertesten Beiträge der Erinnerungsorte des Christentums diejenigen, in denen die Autoren Schicht für Schicht die Geschichte des erinnerten Ortes mit der des Erinnerungsortes kontrastieren. Auf hervorragende Weise tut dies etwa Martin Tamcke in seinem facettenreichen Beitrag zu Konstantinopel, in dem er Träume vom zweiten Rom, Rechristianisierungsphantasien und Islamisierungsphobien nachvollzieht, die den Blick auf die Metropole bis heute prägen. Ebenso Christian Albrecht in seinem vortrefflichen Aufsatz über Taize, das sich zu Konstantinopel etwa so verhalten dürfte wie ein Flip-Chart zum Palimpsest . Denn getreu dem Grundsatz "Wir verbrennen alles. Wir bewahren nichts auf" wird in Taize durch gezielte Vernichtung des Gedächtnisses die Gegenwart Gottes in einem, so Albrecht, permanenten Provisorium inszeniert.

Von ähnlicher Güte sind die Beiträge von Jan Rohls über Genf, Mattias Benad über die Diakonie in Bethel und der Text von Antonius Liedhegener über Christliche Politik, um nur einige zu nennen. Auf den Leser überträgt sich auch die, wie es im Nachwort heißt, "diebische Freude", welche die Herausgeber über ihre beiden Aufsätze "Sankt Martin I" (Hubert Wolf über Martin von Tours) und "Sankt Martin II" (Christoph Markschies über die protestantische Verehrung Martin Luthers) empfanden.

Mit weniger Gewinn liest man freilich die Aufsätze, deren Autoren - unter anderen frühere Kirchenmänner, die über die Zentralorte ihrer jeweiligen Konfession schreiben - sich schwer tun, analytische Distanz zum Erinnerungsort zu finden.

Die Auswahl und Gliederung der Erinnerungsorte wurde von Markschies und Wolf auf sinnvolle Weise vorgenommen: Am Anfang stehen sieben "Zentralorte", drei aus der biblischen Überlieferung (Sinai, Bethlehem und Jerusalem) und vier, welche die konfessionelle Auffächerung zur Geltung bringen sollen (Rom, Konstantinopel, Wittenberg und Genf). Dann folgen 13 sogenannte Reale Orte - Orte im Wortsinn durchaus, denen aber vor allem eine übertragene Bedeutung zukommt. Taize etwa steht nicht in erster Linie für den geographischen Ort, sondern vor allem für eine Frömmigkeitsform. Im dritten Teil "Übertragene Orte" findet sich die Mehrzahl der Aufsätze - zu Erinnerungsorten ohne geographische Entsprechung wie "Inquisition" oder "Bibel".

Das Fehlen wichtiger Erinnerungsorte zu bemängeln, wäre wohlfeil. Vermutlich wird jeder Leser das eine oder andere Loch im Erinnerungsteppich beklagen, wenn er ihn mit einer so großen Formation wie dem Christentum abgleicht. Angemerkt sei lediglich, dass die Geduld durch eine gewisse Übergewichtung der sprichwörtlich gewordenen katholischen Hochburgen auf deutschem Boden strapaziert wird. Statt Beiträge sowohl zu Altötting, Fulda und Köln als auch zu Regensburg aufzunehmen, wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, den Aspekt der Innerlichkeit in der Erinnerungstopographie einer Religion stärker hervorzuheben und religiöse Grundvollzüge wie Gebet, Abendmahl, Taufe zum Gegenstand zu machen. Insgesamt liegt mit den Erinnerungsorten des Christentums gleichwohl ein wertvolles und lehrreiches Panoptikum der kulturellen Überlieferung des Christentums vor.

Reinhard Bingener