Rezension über:

Otfrid Pustejovsky: Stalins Bombe und die "Hölle von Joachimsthal". Uranbergbau und Zwangsarbeit in der Tschechoslowakei nach 1945 (= Geschichte; Bd. 87), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2009, 847 S., ISBN 978-3-8258-1766-4, EUR 59,90
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Rezension von:
Rainer Karlsch
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Karlsch: Rezension von: Otfrid Pustejovsky: Stalins Bombe und die "Hölle von Joachimsthal". Uranbergbau und Zwangsarbeit in der Tschechoslowakei nach 1945, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/17451.html


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Otfrid Pustejovsky: Stalins Bombe und die "Hölle von Joachimsthal"

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Im ersten Teil seines voluminösen Buches behandelt der Autor kursorisch die Geschichte des Silber- und Uranbergbaus in Westböhmen von den Anfängen bis 1945. Es schließen sich zwei große Kapitel über den Uranbergbau im Joachimsthaler und Pribramer Gebiet seit 1945 an. Im vierten und mit Abstand umfangreichsten Teil werden die Organisation der Zwangsarbeitslager sowie die Lebensbedingungen und Schicksale der Inhaftierten, Kriegsgefangenen, aber auch Zivilarbeiter analysiert. Der fünfte Teil besteht aus einem umfangreichen Dokumententeil, der weit mehr als eine bloße Ergänzung des Textes darstellt, sowie einem Quellen- und Literaturverzeichnis. Zahlreiche Abbildungen und Fotos runden den Band ab und lassen den Betrachter das Grauen erahnen, das sich tagtäglich in den Zwangsarbeitslagern abspielte.

Das große Verdienst des Autors besteht darin, nicht nur die neuesten tschechischen Publikationen gründlich ausgewertet und übersetzt, sondern auch intensive Archivstudien in der Tschechischen Republik betrieben zu haben. Hauptanliegen von Pustejovsky ist es, die Geschichte der Zwangsarbeitslager, die rund um die Uranminen angelegt wurden, zu erzählen. Dies gelingt ihm überzeugend. In den Uranbergbaubetrieben von Jachymov (Joachimsthal), Horni Slavkov und Pribram waren verschiedenste Gruppen von Arbeitskräften tätig: von 1945 bis 1949 überwiegend deutsche Kriegsgefangene und "Retributionshäftlinge" (vor allem sudetendeutsche Zivilgefangene), dann tschechische und slowakische "Kollaborateure", politische Häftlinge, Kriminelle und Zivilarbeiter sowie sowjetische Spezialisten. Die Spuren der Zwangsarbeitslager sind heute kaum noch zu erkennen. Trotzdem hat es der Autor verstanden anhand von Fotos, Skizzen ehemaliger Häftlinge, Zeitzeugenaussagen und unzähligen Akten nicht nur deren präzise geographische Lage, sondern auch viele Details ihres Aufbaus und ihrer Funktionsweise zu rekonstruieren.

Die zentrale These klingt bereits im Buchtitel an. Pustejovsky führt hinreichende Belege dafür an, dass die Zwangsarbeitslager den strukturellen Aufbaumustern deutscher Konzentrationslager wie auch der sowjetischen GULAGs ähnelten. Anstelle der zynischen deutschen Losung "Arbeit macht frei" stand über dem Eingangstor der tschechoslowakischen Lager "Durch Arbeit zur Freiheit". Der Autor zitiert zur Charakteristik der Zwangsarbeitslager den in der tschechischen Forschung überwiegend verwendeten Begriff "kommunistisches KZ". Er sieht eine doppelte Zweckbestimmung: Die Lager dienten als Reservoir für billige menschliche Arbeitskräfte und als Repressionsinstrument gegen alle wirklichen sowie vermeintlichen "Staats- und Klassenfeinde". Soweit kann man ihm folgen, nicht jedoch hinsichtlich seiner These, es hätte eine systematische Vernichtung von Regimegegnern stattgefunden.

Pustejovsky wiederholt die in der tschechischen Forschungsliteratur gängige These, der Bau der ersten sowjetischen Atombombe sei nur durch das Uranerz aus Jachymov möglich gewesen. Zweifellos war dieses Erz für die im Aufbau befindliche sowjetische Atomindustrie wichtig. Falsch und längst widerlegt ist es jedoch, den Uranlieferungen aus Westböhmen einen singulären Stellenwert für den Bau der ersten sowjetischen Atombombe zuzuweisen. Die Vermutung des Autors, dass die für diese Frage relevanten russischen Archive noch immer geschlossen seien, stimmt nicht. Schon seit einigen Jahren liegen zur Geschichte des sowjetischen Atomkomplexes umfangreiche Quelleneditionen und Einzeldarstellungen vor. Vor allem die Dokumente aus der "Sondermappe Berija" [1], insbesondere die Sitzungsprotokolle des von Berija geleiteten Spezialkomitees Nr. 1 ("Atompolitbüro"), und die vom Leo Rjabew [2], ehemals Minister für Atomwirtschaft der Russischen Föderation, herausgegebenen Dokumentenbände wie auch mehrere Monographien [3] bieten inzwischen eine sehr gute Basis für zeithistorische Forschungen. In diesen Publikationen finden sich auch Dokumente zur Herkunft des Urans für die erste sowjetische Atombombe sowie über die Politik zur Kontrolle der tschechoslowakischen Uranindustrie.

Entscheidend dafür, dass Ende 1946 der erste sowjetische Versuchsreaktor in Betrieb genommen werden konnte, war die Erbeutung von ca. 300 t Uranverbindungen sowie mehrerer Tonnen Uranmetall kurz nach Kriegsende in Deutschland. Die tschechoslowakischen Uranerzlieferungen deckten zwischen 1945 und 1950 ca. 16 Prozent des sowjetischen Bedarfs. Das war ein erheblicher Beitrag, der aber nicht dazu verleiten sollte, die These zu vertreten, dass die Sowjetunion ohne diese Lieferungen keine Nuklearmacht geworden wäre.

Eine Tendenz, die volkswirtschaftlichen Belastungen durch den Uranbergbau, die ohne Zweifel immens waren, höher zu veranschlagen als diese tatsächlich waren, findet sich auch bei Pustejovsky. So werden ganz unsinnige Rechnungen zitiert, wonach die ČSSR innerhalb von 15 Jahren einen Betrag von 2,4 Milliarden Dollar täglich (!) für ihr Uranerz hätte erlösen können, wären "Weltmarktpreise" gezahlt worden (157). Ganz abgesehen davon, dass es einen Weltmarkt für Uran überhaupt erst seit Ende der 1960er Jahre gab, kalkuliert der Autor mit einem Uranpreis von 8.000 Dollar je kg. Tatsächlich wurden in den USA Anfang der 1950er Jahre jedoch nur maximal rund 16 Dollar je kg gezahlt. Ein Blick in die Statistiken der U.S. Atomic Energy Commission oder in die OECD-Statistiken über die Welturanproduktion hätte genügt, um solche Rechnungen ad absurdum zu führen. [4] Erst Ende der 1970er Jahre schnellte der Uranpreis, inzwischen gab es einen Weltmarkt für diesen Rohstoff, auf mehr als 85 Dollar je kg, um dann aber wieder bis zum Jahr 2000 deutlich zu fallen.

Diese Kritikpunkte ändern nichts daran, dass mit dem Buch von Otfrid Pustejovsky nunmehr das Standardwerk über die Zwangsarbeitslager in der tschechoslowakischen Uranindustrie nach 1945 in deutscher Sprache vorliegt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. V. A. Kozlow, S. V. Mironenko (Hrsg.): Osobava papka L.P. Berii. Arkhiv noveishei istorii Rossi, T 4, Moskwa 1996.

[2] Leo D. Rjabew (Hrsg.): Atomni Projekt SSSR, Teil 2 (1945-1954), Moskau 2000; Leo D. Rjabew (Hrsg.): Atomni Projekt SSSR, Teil 1 (1938-1945), Moskau 2002.

[3] Vgl. A. K. Kruglow (Hrsg.): Kak ssosdawalas atomnaja promyschlennost SSSR, Moskau 1995.

[4] Vgl. Nuclear Energy Agency (ed.): Forty years of uranium resources, production and demand in Perspective, "The Red Book Retrospective", OECD 2006.

Rainer Karlsch