Brian Harrison: Finding a Role? The United Kingdom, 1970-1990 (= The New Oxford History of England), Oxford: Oxford University Press 2010, XIX + 679 S., ISBN 978-0-19-954875-0, GBP 30,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Adrian Bingham: Family Newspapers? Sex, Private Life, and the British Popular Press 1918-1978, Oxford: Oxford University Press 2009
Paul Addison: No Turning Back. The Peacetime Revolutions of Post-War Britain, Oxford: Oxford University Press 2010
Tony Insall / Patrick Salmon (eds.): The Nordic Countries: From War to Cold War, 1944-1951, London / New York: Routledge 2011
Großbritannien, so urteilte der amerikanische Ex-Außenminister Dean Acheson 1962, habe ein Weltreich verloren und noch keine neue Rolle gefunden. Auf dieses Zitat spielt der Oxforder Historiker Brian Harrison im Titel seines Doppelbandes zur britischen Nachkriegsgeschichte an. Der 2009 erschienene erste Band, der die Jahre 1951 bis 1970 behandelte, hieß "Seeking a Role". Der hier zu besprechende Folgeband über die Zeit von 1970 bis 1990 ist mit der Frage "Finding a Role?" betitelt.
Wer die Studie historiographisch einordnen will, sollte sie mit A.J.P. Taylors englischer Geschichte von 1914 bis 1945 vergleichen, die 1965 veröffentlicht wurde. Beide Werke bilden den Abschluss einer von Clarendon Press verlegten Reihe zur britischen Geschichte, in Taylors Fall der Oxford History of England, bei Harrison der als Nachfolgeprojekt initiierten New Oxford History of England. Beide Autoren begeben sich auf das Feld dessen, was zum Erscheinungsdatum als brandneue Zeitgeschichte galt bzw. gilt. Beide Bände sind unter anderem als Studienhandbücher für den Lehrbetrieb gedacht und spiegeln den jeweiligen Stand des Oxforder Themenkanons in der Geschichtswissenschaft wider, der in den 1960er Jahren erstmals weit ins 20. Jahrhundert (bis zum Kriegsbeginn 1939) ausgedehnt wurde und der mittlerweile auch die Thatcher-Ära umfasst.
Hier enden die Gemeinsamkeiten. In vielerlei Hinsicht ist Harrisons Studie als Gegenentwurf zu Taylor konzipiert. Die Unterschiede sagen viel darüber aus, in welche Richtung sich die britische Zeitgeschichtsforschung in dem knappen halben Jahrhundert, das die beiden Bände trennt, inhaltlich und methodisch entwickelt hat. Taylor schrieb seinerzeit eine stilistisch brillante, mit pointiert-bissigen Charakterisierungen der handelnden Personen gespickte und weitgehend chronologisch gegliederte Erzählung der großen Politik, die sich auf das Establishment in Westminster und Whitehall und dessen (Fehl-)Entscheidungen konzentrierte.
Bei Harrison hingegen spielen Akteure in Politik und Verwaltung schon deswegen eine weniger prominente Rolle, weil sein Blick nicht so stark auf die Metropole London verengt ist. Er verweigert sich einer zeitlich geordneten Grundstruktur und umreißt sieben verschiedene Untersuchungsfelder, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist: Veränderungen von Großbritanniens Position in der Welt, die sich wandelnde Topographie des Landes, die Sozialstruktur, Familie und soziale Sicherung, Industrie und Handel, intellektuelles Leben und Kultur, Politik und Regierung. Selbst im Kapitel über "Politics and Government" skizziert Harrison nicht die chronologische Abfolge von Entscheidungen, sondern analysiert den schleichenden Wandel von Institutionen wie dem Kabinett, dem Parlament oder den Parteien.
Auch das Leitmotiv von Harrisons Studie ist dem von Taylor konstatierten Grundzug der Entwicklung entgegen gesetzt. Taylor sah im Wachstum der Macht des Staates den bestimmenden Zug der Zeit in der ersten Jahrhunderthälfte. Harrison hingegen hält die Überbürdung des Staates mit immer neuen Aufgaben für ein zentrales Problem der von ihm untersuchten Epoche. Die konservativen Regierungen seit 1979 betrieben ihre Deregulierungs- und Privatisierungspolitik in seinen Augen nicht zuletzt aus dem Bestreben heraus, politische Stabilität zu sichern, indem sie den Staat aus überdehnten Verantwortlichkeiten zurückzogen und auf diese Weise übertriebene Erwartungen der Bevölkerung an die Regierung abbauten. Die marktradikalen Brachialreformen der Thatcher-Ära erscheinen aus dieser Perspektive nicht so sehr als Produkt ideologischer Überzeugung, sondern eher als Ergebnis konservativer Staatskunst.
Überhaupt stellt Harrison der politischen Klasse seines Landes ein überraschend gutes Zeugnis aus. Sie habe dazu beigetragen, dass beträchtliche Einwanderung nie von massenhafter Gewalt gegen Immigranten begleitet wurde, dass der Kalte Krieg nicht in einen heißen umschlug, dass Erinnerungen an Klassenkämpfe allmählich verblassten, dass Nordirland kein zweiter Libanon wurde und das Vereinigte Königreich nicht auseinanderbrach. Wenn es den Politikern letztlich nicht gelungen sei, eine neue Rolle für Großbritannien zu finden, dann habe ihr Scheitern lediglich die Zweifel des Volkes widergespiegelt, das sie repräsentierten.
Harrisons Einschätzung, dass ein Auseinanderbrechen des Landes im Bereich des Möglichen gewesen sei, verweist auf einen weiteren Unterschied zu Taylor. Dieser hatte seine Studie dezidiert als englische Geschichte verstanden, die Waliser, Schotten und Iren nur dann einbezog, wenn sie etwas zur Geschichte Englands beizutragen hatten. Harrison hingegen verwendet im Untertitel die Bezeichnung "Vereinigtes Königreich", die sich gleichermaßen auf England, Wales, Schottland und Nordirland erstreckt. Er trägt damit einem zunehmenden Eigenbewusstsein in den keltischen Randgebieten des Landes Rechnung, die immer weniger bereit sind, ihre historische Entwicklung unter der Bezeichnung "englische Geschichte" subsummieren zu lassen.
Die Sozial-, Wirtschafts-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte bezieht Harrison breiter und kompetenter ein als Taylor, der in seinem Vorwort in entwaffnender Offenheit bekannt hatte, er verstehe nichts von Verbrennungsmotoren oder Atombomben. Die größere thematische Breite, die tiefere analytische Durchdringung und die abgewogeneren historischen Urteile gehen bei Harrison allerdings auf Kosten des Schwungs einer Darstellung, die ihrem Leser einiges an Vorkenntnissen abverlangt und die verschiedenen, nuanciert vorgestellten Bereiche nicht mehr in eine überwölbende Gesamterzählung integriert. Trotzdem verdient es seine Studie, ein modernes Standardwerk der britischen Zeitgeschichte zu werden.
Dominik Geppert