Rezension über:

Adrian Bingham: Family Newspapers? Sex, Private Life, and the British Popular Press 1918-1978, Oxford: Oxford University Press 2009, XI + 298 S., ISBN 978-0-19-927958-6, USD 99,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Frank Bösch
Historisches Seminar, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Torsten Riotte
Empfohlene Zitierweise:
Frank Bösch: Rezension von: Adrian Bingham: Family Newspapers? Sex, Private Life, and the British Popular Press 1918-1978, Oxford: Oxford University Press 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 6 [15.06.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/06/18328.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Adrian Bingham: Family Newspapers?

Textgröße: A A A

Die späten 1960er Jahre galten lange als Phase der "sexuellen Revolution". In jüngster Zeit haben jedoch Studien zur deutschen Sexualitätsgeschichte dies modifiziert. Während Dagmar Herzog das Aufblühen sexueller Freiheiten im Nationalsozialismus unterstrich, sah Sybille Steinbacher in den 1950er Jahren eine entscheidende Liberalisierung, die sich etwa am Aufstieg von Beate Uhses Unternehmen ausmachen lasse. Auch die hier besprochene Arbeit von Adrian Bingham, Lecturer für Modern History in Sheffield, kommt für Großbritannien zu dem Ergebnis, dass die Öffnung des Sexualitätsdiskurses im printmedialen Raum bereits auf die 1950er Jahre zu datieren ist. Dabei kann er zeigen, wie über die millionenstarken Morgenblätter die sexuelle Aufklärung der Briten betrieben wurde und neue öffentliche Wissensbestände entstanden.

Der Titel Family Newspapers verweist auf das Spannungsfeld, in dem sich die populäre Massenpresse bewegte. Einerseits strebte sie moralische Respektabilität an, um auch bürgerliche Leser und Frauen anzusprechen. Andererseits befanden sich die auflagenstarken Boulevardblätter gerade in Großbritannien in einem intensiven Konkurrenzverhältnis, in dem die Thematisierung von Sexualität einen Vorsprung verschaffen konnte. Dies geschah, um konservative Leser nicht zu verlieren, zwar oft mit moralisierendem Duktus, sorgte aber zugleich mit für eine Verschiebung des öffentlich Sag- und Zeigbaren und damit auch der öffentlichen Normen. Als Quellen wertete Bingham dafür zahlreiche Blätter der "popular morning press" aus (wie den Daily Mirror, Daily Express oder News of the World) sowie einzelne Redaktionsarchivakten, Leserbriefe und Debattentexte. Dabei behandelt Bingham systematisch sechs Formen der Auseinandersetzung mit Sexualität: Ratgeberformate, Umfragen zu sexuellen Praktiken, Gerichtsreportagen, moralische Kampagnen zur Homosexualität und Prostitution sowie Pin-Ups und Enthüllungsgeschichten über Stars. Obgleich sein Buch sechs Jahrzehnte thematisiert, stehen die beiden Nachkriegsjahrzehnte bei der Ergebnisbildung im Vordergrund.

Bingham kann anhand von internen Archivquellen zeigen, wie prüde selbst die britischen Verleger von Boulevardzeitungen bis in die 1940er Jahre waren. 1943 lehnten etwa die meisten Blätter es ab, von der Regierung finanzierte Anzeigen zu drucken, die über Geschlechtskrankheiten aufklären sollten. Im Unterschied zum europäischen Kontinent war in ihren Blättern selbst eine sprachliche Umschreibung der Geschlechtsorgane kaum möglich (68). Einfacher zu thematisieren war dagegen später die Pille, da sie im Unterschied zum Kondom keine Beschreibung des Geschlechtsaktes erforderte. Geöffnet wurde das Wissen um die Sexualität der Briten zunächst durch Umfragen, deren Erstellung und Verbreitung die Zeitungen 1949 im Anschluss an die erste Studie von Alfred Kinsey ermöglichten (98). Die Sunday Pictorial konnte dabei ermitteln lassen, dass die Briten moralisch nicht den Amerikanern überlegen waren, sondern ebenfalls zu großen Teilen Sex vor und neben der Ehe betrieben und dass bis zu 20 Prozent der Briten homosexuelle Erfahrungen hatten. Wenngleich andere Blätter mit konservativer gedeuteten Umfragen reagierten, sorgte dies für einen Wandel der bislang propagierten moralischen Selbstverortungen und Wissensbestände. Ebenso wurden die Berichte über die sexuellen Beziehungen von "Stars" in den 1950er Jahren expliziter, die, selbst bei moralischer Verdammung, doch eine gewisse Orientierung boten. Bilder knapp verhüllter Frauen unterstrichen zeitgleich die Versuche, die Grenzen des Zeigbaren aufzulockern.

Weniger deutlich ist die diachrone Verortung in anderen Kapiteln des Buches. Die Kampagnen gegen Prostitution hatten eine lange Tradition seit dem späten 19. Jahrhundert, als bereits recht explizite Beschreibungen aufkamen. Gleiches gilt für die frühen expliziten Berichte über Ehebrüche im Kontext von Scheidungsprozessen. Trotz dieser Tradition blieben die Blätter in diesem Bereich eher konservativ von ihren Wertungen her. Zur Prostitution dominierten noch in den 1950er Jahren Artikel, die eher eine "Moral Panic" schürten. Ebenso wurde Homosexualität im ersten Nachkriegsjahrzehnt noch mit Pädophilie oder politischem Geheimnisverrat assoziiert. In den 1960er Jahren sprach sich zwar die Mehrheit der Blätter gegen die Entkriminalisierung der Homosexualität aus, aber erst im folgenden Jahrzehnt wurde die Ausgrenzung der Homosexuellen durch Anklagen gegen Pädophile ersetzt. Wie lange sich die Blätter um moralische Respektabilität bemühten, zeigt Bingham auch für die Visualisierung von weiblicher Nacktheit und die heute bekannten "Pin-Ups" im Boulevardjournalismus. In den 1960er Jahren druckten sie zwar mitunter nackte Frauenoberkörper, aber nur im Kontext von "Ereignissen", die mit moralischer Empörung kommentiert wurden. Erst in den 1970er Jahren publizierten die Blätter explizite Aufklärungsartikel und illustrierten diese mit nackten Tatsachen.

Die Stärke von Binghams Buch liegt sicherlich darin, dass er zeigen kann, wie Medien nicht einfach nur über ein außermediales Geschehen berichteten, sondern eigenständig frühzeitig dazu beitrugen, Wissen zu konstruieren und Normen zu prägen. Die Boulevardblätter hatten dabei gegenüber anderen Vermittlungsformen eine gewisse Vorreiterrolle. Aber ebenso interessant sind die Grenzen der Liberalisierung, die, wie Bingham differenziert zeigt, durch den moralischen Anspruch der Verleger gesetzt wurden. Zugleich hat das Buch auch einige Schwächen. Bedauerlich ist, dass es weitgehend auf Seitenblicke über die britischen Grenzen hinaus verzichtet. Dies hätte darauf aufmerksam machen können, wie stark die sprachlichen Tabugrenzen in Großbritannien waren und eine Erklärung dafür herausgefordert. Ebenso hätte eine stärkere Anbindung der aufgezeigten Diskurse an die Rechts- und Sozialgeschichte der Sexualität verdeutlicht, inwieweit die Medien den Umgang mit der Sexualität veränderten (etwa an die Verurteilung wegen Homosexualität, Prostitution oder Abtreibung). Besonders gut gelungen scheinen mir entsprechend die Passagen, die Bezüge zu Gesetzesreformen oder wissenschaftlichen Diskussionen herstellen. Insgesamt hat Bingham aber einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Printmedien und zur Sexualität geleistet, der gerade durch die Verbindung der beiden Felder Erklärungskraft gewinnt.

Frank Bösch