Anne Duncker: Menschenrechtsorganisationen in der Türkei, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, 264 S., ISBN 978-3-531-16245-4, EUR 49,95
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Mit dem Beginn des EU-Beitrittsprozesses hat sich die Türkei verpflichtet, die Standards für Menschenrechte im Lande zu verbessern. Dies wird in regelmäßigen Abständen durch Berichte von der EU überwacht. Abgesehen von der Menschenrechtssituation und den in diesem Bereich bekannten drei zivilgesellschaftlichen Organisationen IHD, TIHV und Mazlumder blieben jedoch die Menschenrechtsorganisationen in der Forschung weitgehend unbekannt. Genau diese Lücke zu schließen, ist das Hauptanliegen des Werkes von Anne Dunker, das auf ihrer Marburger politikwissenschaftlichen Promotionsschrift aus dem Jahre 2008 basiert.
Die Autorin untersucht die Landschaft der türkischen Menschenrechts-NGOs entlang dreier von ihr aufgestellten Konfliktlinien: Religion vs. Säkularismus, Zentrum vs. Peripherie sowie Universalismus vs. Relativismus. Dabei legt sie den Fokus auf kleinere, unbekannte und wenig professionalisierte Organisationen, wobei sie weder eine Darstellung von Organisationsformen noch von Tätigkeitsfeldern der NGOs beabsichtigt. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, inwieweit diese Konfliktlinien sich im Bereich der Menschenrechts-NGOs fortsetzten und das Verhältnis der NGOs zum Staat und zum EU-Beitrittsprozess beeinflussen. Außerdem beleuchtet sie, ob und wie diese Konfliktlinien die horizontalen Beziehungen zwischen den Organisationen prägen. Basierend auf 26 Experteninterviews, die mit den Vertretern der Organisationen in Istanbul und Ankara durchgeführt wurden, gelingt es der Autorin, die komplexe Sachlage anhand der von ihr aufgeworfenen Fragestellung zu analysieren, wobei die untersuchten Daten überwiegend im Untersuchungszeitraum 2005 erhoben wurden. Sie stuft verschiedene Tätigkeitsgruppen als Menschenrechts-NGOs ein und deckt somit eine relativ weites Spektrum ab, das von der Anwaltskammer bis zum Kulturverein reicht.
Anne Dunckers Werk ist in drei Hauptkapitel eingeteilt. In dem einführenden Teil werden die für die Arbeit relevanten Begriffe differenziert definiert und das methodische Vorgehen verständlich vorgestellt. Die Auswahl der Akteure und die Festlegung ihrer "ideologischen Ausrichtung" (d.h. politisch und religiös) nach links, kemalistisch, islamisch und operativ erläutert sie allerdings eher knapp.
Die Analyse der empirischen Befunde im zweiten Teil zeigt auf, inwiefern die "ideologische Ausrichtung" der jeweiligen NGOs ihr Verhältnis zum Staat prägt und wie die zum Zeitpunkt der Interviews ca. drei Jahre alte AKP-Regierung in Hinsicht auf Kooperation und Repression bewertet wird. Dabei erfahren wir, dass sowohl die linken als auch die islamischen Organisationen die kemalistische Autorität für die schleppende Implementierung der Menschenrechte verantwortlich machen. Somit unterscheiden sie sich grundlegend von den kemalistischen NGOs, die de facto wie staatliche Stellen arbeiten und sich selbst und die Zivilgesellschaft ausschließlich in der staatlichen Sphäre verorten (98f.).
Bei der Bewertung des EU-Integrationsprozesses aus der Sicht der Interviewten macht Duncker auf neue Erkenntnisse hinsichtlich der Herausbildung von Gegenidentitäten aufmerksam. Eine Entwicklung, die laut der Autorin nahezu bei allen Organisationen zu beobachten sei: "Die Ziele der NGOs decken sich zwar weitgehend mit den menschenrechtlichen Forderungen der EU. Dennoch sorgt die empfundene Rolle des Bittstellers, der sich vergeblich um die Aufnahme in die Gemeinschaft bemüht, aber immer wieder zurückgewiesen wird, bei vielen NGO-Vertretern für eine schwindende Identifikation mit Europa." (124).
Den Schwerpunkt der Studie bildet der dritte Teil, in dem die Autorin zunächst anhand von Selbst- und Fremdbeschreibungen sehr gut aufzeigt, wie drastisch sich das Verständnis von "Politischem" unter Menschenrechts-NGOs von dem europäischen Politik-Verständnis unterscheidet und das "politische" Attribut dem "menschenrechtlichen" negativ gegenübergestellt wird. Bei den Interviews sticht auch eine merkwürdige Defensivhaltung ins Auge. So geben die meisten NGOs an, keine politische Organisation zu sein, sondern reine menschenrechtsorientierte Ziele zu verfolgen. Daraus ergibt sich für den Leser der Schluss, dass das Zivilgesellschaftsverständnis der NGOs extrem von einer politisch/unpolitisch-Dichotomie belastet ist, was sicherlich der Entpolitisierungspolitik nach dem Militärputsch von 1980 geschuldet ist. Der hohe Stellenwert des "unpolitisch"-Seins fungiert vor allem bei den kemalistischen NGOs zur Abgrenzung von der angeblich "politischen" Zivilgesellschaft, während es für die linken und islamischen NGOs der eigenen Legitimation dient, indem die politisch relevanten Themen im Menschenrechtsbereich verortet werden. (133-140). Diese Abgrenzung verhindert jedoch eine mögliche Kooperation unter den NGOs. Interessant ist, dass bei den Frauen- und Homosexuellenorganisationen das Gegenteil zu beobachten ist. Diese versuchen, ihre Arbeit bewusst als "politisch" zu definieren, um mehr Anerkennung zu erlangen und sich von ihrer Außenseiterposition zu befreien. Diese Gruppen zeigen zugleich den höchsten Kooperationswillen unabhängig von der ideologischen Ausrichtung. (140-143).
Die Analyse der gesellschaftlichen Konfliktlinie "Religion vs. Säkularismus" zwischen kemalistischen und islamischen NGOs wird bedauerlicherweise - abgesehen von einem einzigen Interviewauszug mit einer kemalistischen NGO - ausschließlich anhand von Interviewauszügen mit den islamischen NGOs durchgeführt. Hier wird gezeigt, wie dieser Dissens die Identitätsbildung der NGOs und deren Verhältnis zueinander prägt.
Die zweite gesellschaftliche Konfliktlinie in Sachen Minderheitenrechte wird am "Zentrum vs. Peripherie"-Gegensatz festgemacht. Hier geht es vor allem um die Rechte von Nichtmuslimen, Aleviten und Kurden, wobei der Disput zwischen kemalistischen und linken NGOs ausgetragen wird. Für die kemalistische Gruppen haben Minderheitenrechte keine Bedeutung, ja der Einsatz für diese wird sogar mit einem nationalistischen Erklärungsmuster als Provokation bezeichnet. Das Verhältnis zwischen beiden Gruppen ist geprägt von gegenseitigen Vorwürfen und fehlender Anerkennung. Wir erfahren hier, wie ähnlich aber auch wie unterschiedlich die Aussagen unabhängig von der "ideologischen Ausrichtung" der NGOs sein können. Dabei ist immer wieder zu sehen, dass sich junge und unerfahrene Organisationen mit einer Abwehrhaltung stärker in ihrem Kontext verorten, während die langjährigen und erfahrenen NGOs sich dem internationalen Diskurs anpassen.
Die dritte Konfliktlinie in Sachen Menschenrechte bildet der Antagonismus "Universalismus vs. Relativismus". Diese wird anhand der Beispiele Minderheitenrechte und Homosexuellenrechte beleuchtet. Diese Konfliktlinie hilft wiederum den pro-kurdischen NGOs, da sie dadurch eine "diskursive Anpassung" im internationalen Kontext vornehmen, was für die islamische NGOs, die das Recht auf Religionsfreiheit relativieren, schwieriger ist. (184).
Insgesamt kommt die Autorin anhand der Konfliktlinien zum Schluss, dass die Abgrenzung sowie die gegenseitige Delegitimierung zwischen den Organisationen den größten Stolperstein zu einer möglichen Kooperation darstellen. Hierin unterstreicht die Autorin die Entmilitarisierung als die grundlegende Voraussetzung für die nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtsstandards. Anschließend geht Duncker der Frage nach, wie die Kooperation trotz der bestehenden Konfliktlinien und "ideologischen Ausrichtungen" umgesetzt werden kann, um eine Verbesserung der Menschenrechtstandard in der Türkei zu ermöglichen. Eine Kooperation über die sogenannten soft issues, d.h. wenig politisierten Themen, sei über Konfliktlinien möglich, wie es bereits in Bezug auf Frauenrechte erfolgreich gezeigt wurde. Hier hatten verschiedene Frauen-NGOs unterschiedlicher Ausrichtung zur Änderung des Strafgesetzbuches zugunsten der Frauen kooperiert. Auch die beginnende Zusammenarbeit zwischen linken und islamischen NGOs könnte als Beispiel angeführt werden. Des Weiteren wird festgestellt, dass die Konfliktlinien zwischen den kemalistischen und linken NGOs angesichts der Kurdenfrage sogar verstärkt fortbestehen.
Abschließend stellt Duncker als das wichtigste Ergebnis ihrer Studie fest, dass ein breiteres Spektrum an NGOs im Bereich der Menschenrechte existiert, als es bislang in der Forschung berücksichtigt wurde.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Studie zwar eine recht weite Bandbreite unterschiedlicher Organisationen ausmachen kann, jedoch zum Schluss kommt, dass die drei bereits international bekannten Akteure IHD, TIHV und Mazlumder (die ersten zwei ordnet die Autorin dem linken, die letzte dem islamischen Spektrum zu) nach wie vor am professionellsten arbeiten und somit Vorreiter in Sachen Menschenrechten sind. Sie vertreten ein universalistisches Menschenrechtsverständnis und partizipieren am europäischen Diskurs. Abgesehen von der nicht ganz unproblematischen Kategorisierung nach "ideologischer Ausrichtung" gibt Dunckers Studie Aufschlüsse über bisher unbekannte Aspekte der Menschenrechts-NGO-Landschaft und wirft neue Fragestellungen zu diesem bislang nur wenig erforschten Bereich auf.
Gül Şen