Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990 (= Geschichte der Bundesrepublik Deutschland), München: DVA 2006, 847 S., ISBN 978-3-421-06737-1, EUR 49,90
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Mit dem "Abschied vom Provisorium" schreibt Andreas Wirsching die "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland", deren erste fünf Bände bereits zwischen 1981 und 1987 erschienen sind, für die Ära Helmut Kohl bis zum Ende der Bonner Republik fort. Indem er sich von der chronologischen Erzählweise seiner Vorgänger löst und der theoretisch reflektierten, sachlich-systematischen Analyse den Vorzug gibt, grenzt er den bisher eher breit angelegten Kreis der Adressaten auf das fachwissenschaftliche Publikum ein. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil, sondern wesentliche Voraussetzung dafür, die Jahre zwischen 1982 und 1990 nicht als ein vermeintlich bereits geklärtes Schlusskapitel zur Geschichte der "alten" Bundesrepublik vorzustellen, sondern diese von vielfältigen Kontinuitäts- und Umbruchlinien gekennzeichnete Zeit überhaupt erst einmal sorgfältig zu explorieren, die dabei auftauchenden Probleme zu diskutieren und Interpretationslinien zu entwickeln, die sich zurück in die Vergangenheit, aber auch bis in die Gegenwart hinein ziehen lassen. Wirsching verweigert sich damit dem politikhistorisch verführerisch nahe liegenden Erzählmuster einer bundesdeutschen Erfolgsgeschichte. Das macht neugierig auf die Lektüre.
Die auf sehr breiter Literaturgrundlage unter Einbeziehung ausgewählter Archivquellen erarbeitete Darstellung gliedert sich in acht Kapitel. Auftakt und Abschluss bilden zwei stärker ereignisorientierte Kapitel zu den Anfängen der Regierung Kohl 1982/83 und zur deutschen Einheit 1989/90. Den Kern der Untersuchung stellen sechs sachthematisch zugeschnittene Kapitel dar. Sie behandeln Probleme des Parteien- und Regierungssystems in der medialen Massendemokratie, die Sachzwänge des wirtschaftlichen Strukturwandels als Rahmen politischen Handelns, die gesellschaftlichen Umbrüche im Zeichen von Individualisierung und Pluralisierung, den Zusammenhang von gebrochenem Fortschrittsbewusstsein und wachsenden politischen Protesten, Tendenzen in der Kultur und schließlich die bundesdeutsche Außenpolitik. Bereits im Auftaktkapitel stellt Wirsching klar, dass es entgegen der proklamierten "geistig-moralischen Wende" nicht zu einer vollständigen Abkehr von der sozialliberalen Reformpolitik des vorausgegangenen Jahrzehnts kam, sondern dass die neue Regierung Kohl/Genscher in vielen Bereichen der Innen- und Außenpolitik an ihre Vorgänger anknüpfte.
Ausgehend von einer Analyse der grundsätzlichen Probleme des Parteien- und Regierungssystems entfaltet Wirsching sein zentrales Interpretationsmuster: das der "Doppelstruktur demokratischer Politik im modernen Medienzeitalter" (208-222). Ihre Schwierigkeit besteht darin, dass sie unter Mitwirkung einer wachsenden Zahl von potenziellen "Vetospielern" (erweitertes Parteienspektrum, einflussreiche Gewerkschaften und Verbände, starker Föderalismus, Aufkommen neuer sozialer Bewegungen, wachsende internationale Einbindung etc.) möglichst sachgerechte Lösungen erarbeiten soll, diese aber zugleich laufend in den Medien präsentiert und vermittelt werden müssen, um öffentliche Zustimmung zu erlangen. Unter diesen Bedingungen erfordern selbst kleine politische Kurskorrekturen einen erheblichen diskursiven Aufwand. Eine - von Helmut Kohl virtuos genutzte - Möglichkeit, die wachsende Komplexität politischer Kommunikations- und Entscheidungsprozesse zumindest ansatzweise zu reduzieren, bestand in der stärkeren Personalisierung und Informalisierung von Politik, stieß aber doch an Grenzen. Dieser systemtheoretisch inspirierte, funktionale Interpretationsansatz wird von Wirsching nicht in allen Kapiteln so konsequent angewandt, wie dies für das Parteien- und Regierungssystem als solches und für die Analyse der Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Bewältigung des wirtschaftlichen Strukturwandels geschieht; gerade dadurch entgeht er der Gefahr der Überdeterminierung und liefert eine insgesamt überzeugende Erklärung für die wachsenden Blockaden der bundesdeutschen Politik in den 1980er Jahren. Systemische Ursachen, so das zentrale Leitmotiv der Darstellung, nicht persönliches Unvermögen von Politikern und Politikerinnen sind im Kern für die Grenzen der Steuerungsfähigkeit von Politik in der medialen Massendemokratie verantwortlich.
Eine besondere Stärke der Untersuchung besteht darin, dass sie die mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel verbundenen politischen Herausforderungen deutlich herausarbeitet. Wirsching spricht pointiert von "Strukturwandel als Schicksal" (223-288). In der Tat setzte dieser durch die dritte - digitale - industrielle Revolution und eine beschleunigte Internationalisierung und Globalisierung angetriebene Wandel auch die bundesdeutsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik unter steigenden Druck und engte ihre Handlungsspielräume ein. So war es der Regierung Kohl/Genscher nicht möglich, ihrem eigenen, sozusagen postkeynesianischen Bekenntnis zu mehr Markt und Wettbewerb und zur strikten Haushaltskonsolidierung konsequent zu folgen; vielmehr sah sie sich veranlasst, den Strukturwandel in den am schwersten betroffenen Branchen und Regionen mit staatlichen Eingriffen sozial abzufedern, was umgehend neue Probleme, etwa mit Blick auf die notwendige europäische Abstimmung, nach sich zog. Noch deutlicher hätte in diesem Zusammenhang freilich herausgearbeitet werden können, dass der nationalen Politik nicht nur in "Brüssel" sondern auch in den immer stärker international agierenden deutschen Unternehmen und den multinationalen Konzernen zusätzliche "Vetospieler" erwuchsen. Denn sie begannen, die eingeübten Verfahren des gesellschaftlichen Interessenausgleichs immer mehr in Frage zu stellen.
Andreas Wirsching zeichnet ein Bild von den 1980er Jahren, das von einem tief greifenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel gekennzeichnet ist, der das politische System der medialen Massendemokratie mehr und mehr überforderte - ein Umstand, dessen Virulenz durch die unverhoffte deutsche Einheit allerdings weitgehend überstrahlt wurde. Da viele der von Wirsching analysierten Probleme, etwa die angestrebte Vereinfachung des Steuersystems oder die nachhaltige institutionelle Reform der Sozialversicherungssysteme, nach wie vor ungelöst sind und zu weiteren Vertrauensverlusten in die Politik beitragen, stimmt die Lektüre dieser scharfsinnigen Analyse nicht gerade optimistisch. Für eine problemorientierte, um Orientierungswissen für die Gegenwart ringende zeithistorische Geschichtswissenschaft ist sie indes fraglos ein großer Gewinn.
Friederike Sattler