Anna Krylova: Soviet Women in Combat. A History of Violence on the Eastern Front, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XVI + 320 S., ISBN 978-0-521-19734-2, GBP 55,00
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Anna Krylova untersucht die Geschichte der insgesamt knapp einen Million Frauen, die während des deutsch-sowjetischen Krieges 1941-1945 bei der Roten Armee dienten. Die meisten Soldatinnen waren in quasi-zivilen Bereichen (Medizin, Kommunikations-, Versorgungs- und Verkehrswesen) beschäftigt. Aber nicht sie stehen in dieser Monografie im Mittelpunkt, sondern die rund 120.000 bewaffneten Kombattantinnen. Sie drangen als Scharfschützinnen, Kampfpilotinnen, Panzerfahrerinnen oder als Angehörige von Infanterieregimentern bis ins Innere des Militärischen vor, dorthin nämlich, wo auch das Töten des Gegners alltägliche soldatische Aufgabe war. Im ersten Kriegsjahr war solcher Kampfeinsatz noch dem individuellen Durchsetzungsvermögen einzelner Frauen geschuldet, ab 1942/43 wurde er von der politischen Führung der Sowjetunion ausdrücklich gefördert und gefordert. Damit verstieß sie gegen den bisherigen Konsens kriegsführender Staaten, Frauen nur für nichtkombattante (oder als solche definierten) Funktionen zuzulassen, sie überschritt damit Grenzen, die die britische und die amerikanische Armee nicht zu übertreten wagten.
Krylova diskutiert diese sowjetische Besonderheit im Kontext des Stalinismus und seinem inkohärenten Angebot an Geschlechterrollen. Ihrer Interpretation nach folgten die bewaffneten Kämpferinnen keinem traditionellen "oppositional binary concept" von gender (12). Vielmehr hätten sie sich im stalinistischen Milieu der 1930er Jahre eine unkonventionelle Identität konstruieren können, die auf einem "nonoppositional though still binary concept of gender" (13) basierte und es ihnen erlaubte, Weiblichkeit und soldatische Tugenden miteinander zu verschmelzen: "the right to participate in combat violence and to acquire the specialized and technical knowledge required of the modern soldier was seen by young women as an expression of their new liberated Soviet womanhood" (14).
In ihrem in drei Teile (und sieben Kapitel) gegliederten und chronologisch aufgebauten Buch untersucht Krylova, wie es im Rahmen eines totalitär-autoritären Systems zu einer solchen Rekonzeptualisierung von Weiblichkeit kommen konnte. Im ersten Kapitel ("Before the Front, 1930s") beschreibt sie die politische Sozialisation der späteren Kämpferinnen im stalinistischen Milieu der 1930er Jahre, das mit seinem Akzent auf paramilitärischer Ausbildung für beide Geschlechter und der Vorbereitung junger Männer und Frauen auf die zu erwartenden Kriege nicht nur in den Fliegerclubs und bei der Fallschirmspringerausbildung, sondern auch mittels Presse, Literatur und Film traditionelle Geschlechtsrollenmuster aufzuweichen half. Das Ergebnis war, so Krylova, zumindest bei einer Reihe von Frauen, eine gender-Ambiguität, die dezidierte Ansprüche auf zukünftige militärische Teilhabe entstehen ließ.
Wie ernst es vielen damit war, zeigt die Flut freiwilliger Meldungen von Frauen zum Kampfeinsatz an der Front unmittelbar nach Kriegsbeginn. Im zweiten Kapitel ("On the Way to the Front, 1941-1945") zeichnet Krylova die Entwicklung nach, die mit solchen individuellen Absichtserklärungen im Sommer 1941 begann und 1942/43 in eine Reihe von staatlich organisierten Massenmobilisierungskampagnen mündete, die Hunderttausende junger Frauen an die Front und viele davon auch zum Kriegsdienst mit der Waffe brachten. Von einer breiten Propaganda-Kampagne waren diese Maßnahmen allerdings nicht begleitet. Gegenüber der Öffentlichkeit verheimlichte der Staat seine radikale Mobilisierungspolitik. Die Presse berichtete lediglich über einzelne herausragende Kämpferinnen.
Ob es sich bei diesen Kampagnen tatsächlich um eine Reaktion auf starken weiblichen Druck von unten handelt, wie Krylova nahelegt, oder um die verzweifelte Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen durch einen totalitären Staat, der sich einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sah und auf gesellschaftliche Konventionen keinerlei Rücksicht nehmen musste, wird vermutlich noch kontrovers diskutiert werden.
Das dritte und spannendste Kapitel ("At the Front, 1941-1945") behandelt die Erfahrungen sowjetischer Kombattantinnen an der Front und den allmählichen Wandel der Beziehungen zwischen weiblichen und männlichen Militärangehörigen. Dabei betont Krylova den engen Zusammenhang zwischen der Remechanisierung der Roten Armee seit 1942 (nach den gigantischen Anfangszerstörungen) und ihrem "Regendering", das der Akzeptanz von Frauen und ihren Aufstiegsmöglichkeiten im Militär zu Gute gekommen sei. Ein wichtiger Untersuchungsgegenstand ist das "bonding by combat" zwischen Männern und Frauen, denn die meisten Frontkämpferinnen dienten in gemischten Einheiten. Anders als der Untertitel der Untersuchung (A History of Violence on the Eastern Front) jedoch vermuten lässt, spielt das tägliche Kriegsgeschehen mit seiner todbringenden Gewalt in Krylovas Darstellung eine eher untergeordnete Rolle, mitunter wirkt sie geradezu "blutleer".
Eine interessante Interpretation liefert die Verfasserin, wenn sie das (bereits aus Kriegserinnerungen sowjetischer Soldatinnen und aus der Forschungsliteratur bekannte) Bestreben vieler Soldatinnen analysiert, ihre Weiblichkeit auch unter Kriegsbedingungen und selbst unter widrigsten Umständen zu betonen (Frisur, Make-up, Sticken): Dabei sei es mitnichten darum gegangen, durch den Rückzug in traditionelle Welten dem Grauen des Krieges zumindest vorübergehend zu entkommen, sondern vielmehr darum, die Leistung weiblicher Soldaten an der Front zu akzentuieren, das akzeptierte Spektrum von Weiblichkeit zu erweitern.
Anlass zu Kontroversen dürfte nicht nur diese Deutung bieten, sondern auch Krylovas Behauptung, die bewaffneten Kämpferinnen der Roten Armee hätten (im Gegensatz zu den nichtkombattanten Soldatinnen) an der Front keine Belästigung durch männliche Militärpersonen, keinen sexuellen Missbrauch erlebt. Manche Memoiren, wie etwa die der Scharfschützin Julija Žukova, legen hingegen etwas anderes nahe.[1] Wohl nicht zufällig fehlen sie im Literaturverzeichnis des vorliegenden Bandes. Überhaupt wirft dessen Quellenbasis manche methodische Frage auf, denn bei der überwältigenden Mehrheit handelt es sich um Publikationen, die noch zu Sowjetzeiten, also unter Zensurbedingungen, erschienen sind und über deren Entstehungskontext und redaktionelle Bearbeitung wir nichts wissen.
Insgesamt liefert Krylovas thesenfreudige Untersuchung eine Vielzahl von anregenden, darunter auch revisionistischen Interpretationen einer hochspezialisierten Minderheit bewaffneter sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg. Die Geschichte aller weiblichen Angehörigen der Roten Armee und ihrer zum Teil haarsträubenden Erfahrungen muss hingegen noch geschrieben werden.
Anmerkung:
[1] Julija Žukova: Devuška so snajperskoj vintovkoj, Moskva 2006. Siehe auch den Aufsatz von Euridice C. Cardona und Roger Markwick: 'Our Brigade Will Not Be Sent to the Front': Soviet Women under Arms in the Great Fatherland War, 1941-45. In: The Russian Review 68 (2), 2009, 240-262.
Beate Fieseler