Barbara Alpern Engel: Breaking the Ties that Bound. The Politics of Marital Strife in Late Imperial Russia, Ithaca / London: Cornell University Press 2011, XI + 282 S., ISBN 978-0-8014-4951-2, GBP 26,50
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Die vorliegende Monographie sei das Ergebnis zwölfjähriger Arbeit, teilt uns Barbara A. Engel in ihren Acknowledgments mit. Und in der Tat: Was sie in diesem Buch bietet, ist weit mehr als der vergleichsweise 'eng' anmutende Titel verspricht. Denn sie untersucht nicht nur Ehekonflikte, sondern - davon ausgehend - den grundlegenden Wandel der Geschlechterrollen im ausgehenden Zarenreich, der sich vor allem durch ein verändertes Selbstverständnis von Frauen und deren gestiegene Ansprüche auf Teilhabe und "agency" Bahn brach. Die dadurch ausgelösten Veränderungen blieben nicht nur auf Frauen beschränkt, sondern beeinflussten schließlich sogar manch konservative zarische Beamte, allesamt treue Diener der Autokratie. Dies am Beispiel der Auflösung von Eheverhältnissen zu analysieren, ist also eher der Ausgangspunkt dieses Buches. Aber es handelt sich um ein klug gewähltes Beispiel, um viel weiter reichende Veränderungen im Bereich des privaten Lebens im ausgehenden Zarenreich zu beleuchten. Denn, so Engels These, in der Ära der Großen Reformen wurde nicht nur die Bauern- und die Arbeiterfrage, die Frauen- und die Judenfrage aufgeworfen, sondern die traditionelle patriarchalische Familienordnung insgesamt in Frage gestellt. In der Folge erlebte das Russische Reich dann eine allgemeine "Ehekrise" (S. 1).
Ein Ausdruck dieser Krise war die steigende Zahl von Trennungsgesuchen, die zumeist von Frauen eingereicht wurden und deren Willen demonstrierten, Widerstand gegen unerträglich gewordene private Verhältnisse zu leisten. Während es keine Möglichkeit zur Trennung von Ehepartnern auf juristischem Wege gab und die Orthodoxe Kirche Scheidungen nur in Ausnahmefällen gestattete, blieb einzig die Möglichkeit, eine persönliche Petition an die Kaiserliche Kanzlei für die Entgegennahme von Petitionen (in dieser Form reorganisiert 1884) zu richten. Die Kaiserlichen Beamten konnten zwar auch keine Ehescheidung vornehmen, aber immerhin dafür sorgen, dass manch verzweifelte Ehefrau einen eigenen Pass erhielt, mit dem sie selbstständig, also unabhängig von ihrem (Noch-)Ehemann, leben konnte.
Basierend auf einer Fülle von Quellen aus zentralen Moskauer und Petersburger Archiven und der eingehenden Untersuchung zeitgenössischen Schrifttums, insbesondere auch der populären Massenliteratur sowie der einschlägigen Sekundärliteratur (leider fast ausschließlich in englischer und russischer Sprache), die es ermöglicht, das Russische Reich auch immer wieder im internationalen Vergleich zu situieren, entfaltet Barbara A. Engel ein ebenso erhellendes wie erschreckendes Bild der "Ehekrise", die das Zarenreich gegen Ende erfasste. Sie äußerte sich unter anderem darin, dass zwischen 1884 und 1914 rund 30-40.000 unzufriedene Ehefrauen eine Petition an die Kanzlei richteten, die im Namen des Zaren agierte. Knapp 2.000 der darin beschriebenen Familienangelegenheiten sind vollständig dokumentiert. Engel bezieht sich in ihrer Monographie auf die gründliche Auswertung von 260 Einzelfällen, hat aber rund die Hälfte aller in den Eingaben thematisierten Begehren für ihr Buch verwendet. Dass es sich dabei nur um die Spitze eines ganzen Eisbergs weiblicher Eheunzufriedenheit handeln kann, betont Engel wohl zu Recht gleich mehrfach.
Zu den Ironien der Geschichte gehört es, dass die eigentlich anachronistische Kanzlei mehr Frauen in ihrem Bestreben nach Trennung und Unabhängigkeit unterstützte als die Justiz, von der Orthodoxen Kirche ganz zu schweigen. Mit der Kanzlei eröffnete sich sozusagen ein extralegales Schlupfloch: als Agent des zarischen Willens hatte sie nämlich die Möglichkeit, das Gesetz, welches die Trennung von Ehegatten (abgesehen von einigen Ausnahmefällen) verbot, zu umgehen und Frauen auf administrativem Weg die Möglichkeit auf ein selbstständiges Leben einzuräumen. Und viele wussten um diese Möglichkeit und nutzten sie auch, wie Engel anschaulich zeigen kann. Die meisten Petitionen kamen aus St. Petersburg und Moskau (rund zwei Drittel), aber auch aus anderen und kleineren Städten und sogar Dörfern. Die meisten Eingaben (rund 58 %) stammten von Frauen, die dem bäuerlichen Stand angehörten (gleichwohl waren Bäuerinnen damit deutlich unterrepräsentiert). Weibliche Angehörige des meščanstvo ("Kleinbürger") hingegen waren mit gut 27 % überrepräsentiert, die übrigen gehörten den privilegierten Ständen an und waren damit ebenfalls stärker vertreten als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte.
Ausgelöst wurden die Trennungsbegehren neben der geringen Aussicht auf eine Scheidung nicht zuletzt durch eine im Russischen Reich bestehende rechtliche Ambivalenz. Einerseits konnten selbst erwachsene Frauen nicht über sich selbst als Person verfügen, sondern waren dem Willen ihrer Väter bzw. Ehemänner ausgeliefert, was z. B. bei der Ausstellung eines eigenen Passes von Bedeutung war. Diese Regelung galt bis März 1914. Andererseits besaßen sie im Hinblick auf die Verfügungsgewalt über ihr Eigentum viel weitergehende Rechte als europäische oder amerikanische Frauen. In der Praxis aber wurde der weiblichen Abhängigkeit gewöhnlich mehr Platz eingeräumt als ihrer Unabhängigkeit. Doch auch hier kam es zu einem allmählichen Wandel, den Engel in ihrer Studie dokumentiert.
Abgesehen von Einleitung und Schluss enthält der Band acht thematisch gegliederte Kapitel, die jeweils ausgehend von den Petitionen folgende Themen ins Zentrum rücken: die Arbeit der Kanzlei und ihrer Beamten vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Diskussionen der Frauenfrage in Literatur und Presse (The Ties That Bound), die Bedeutung romantischer Liebesideale in Petitionen von Frauen (Making Marriage: Romantic Ideals and Female Rhetoric), die Verfügungsgewalt von Frauen über Geld und Besitz (Money Matters), häusliche Gewalt (Disciplining Laboring Husbands), ökonomische Unabhängigkeit von Frauen (Earning My Own Crust of Bread), Häuslichkeitskult und Würde von Frauen (Cultivating Domesticity), amouröses Verhalten (The Right to Love) und schließlich die Fürsorge für Kinder aus zerbrochenen Ehen (The Best Interests of the Child).
Zu bedauern ist das Fehlen einer Bibliographie. Stattdessen wird jeder benutzte Titel in den Fußnoten jeweils in voller Länge wiedergegeben und das zumeist mehrfach. Dies macht das Buch nicht gerade leserfreundlich und übersichtlich, bisweilen nehmen die Fußnoten gut ein Drittel der Seite ein. Immerhin verfügt der Band aber über einen Index sowie eine Reihe vielsagender zeitgenössischer Karikaturen aus der Zeitschrift Strekoza ("Libelle") und einige Fotodokumente.
Angesichts der Vielzahl von Themen, die sie gründlich behandelt und der zahlreichen anderen Aspekte im Privatleben der Untertanen der Zaren, die sie zumindest streift, kann man die Leistung von Barbara A. Engel nur loben. Aus einer bislang nicht systematisch untersuchten Perspektive, nämlich der des Privatlebens der unteren und mittleren sozialen Schichten, liefert die elegant geschriebene Studie einen äußerst lesenswerten, innovativen Beitrag zum besseren Verständnis der allgemeinen politischen Krise der russischen Autokratie im Zeitalter der Großen Reformen.
Beate Fieseler