Thekla Keuck: Hofjuden und Kulturbürger. Die Geschichte der Familie Itzig in Berlin (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur; Bd. 12), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 552 S., 2 Farb-, 18 s/w-Abb., 2 Stammbäume, ISBN 978-3-525-56974-0, EUR 98,95
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Zu den dynamischsten Epochen der jüdischen Geschichte Berlins zählt zweifellos die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, während der die Gemeinde an der Spree von tiefgreifenden ökonomischen und kulturellen Wandlungsprozessen erfasst wurde und zu einem Leitstern der jüdischen Aufklärung (Haskala) avancierte. Erheblichen Einfluss innerhalb der Gemeinde übte in dieser Zeit die Familie des "Münzjuden" und Oberlandesältesten der preußischen Judenschaften Daniel Itzig (1723-1799) aus, die bislang noch nicht monographisch gewürdigt wurde. Mit ihrer hier zu besprechenden Kölner Dissertation stößt Thekla Keuck also in eine erhebliche Forschungslücke. Sie möchte "am Beispiel der Familie Itzig den transkulturellen Prozess nachzeichnen, der die mitteleuropäischen Juden unter dem Einfluss der Aufklärung aus der Abgeschlossenheit des traditionellen Judentums in den Raum der modernen europäischen Gesellschaft führte." (9)
Hierzu spannt die Autorin einen Bogen vom frühen 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Beleuchtet wird zunächst das Heiratsnetzwerk der Familie, dessen Grundlagen bereits durch den aus Polen stammenden Itzig Daniel Jafe (1679-1741) gelegt wurden. Sohn Daniel heiratete in die angesehene Berliner Familie Wulf ein und verheiratete seine Kinder mit Partnern aus den Berliner Familien Wulf, Flies und Ephraim. Darüber hinaus knüpfte Itzig weiter ausgreifende Bande zu führenden Familien aus Königsberg (Friedländer, Oppenheim, Seligmann) und Wien (Arnsteiner, Eskeles). Für die vierte und fünfte Generation der Familie konstatiert Keuck indes eine schrittweise Annäherung des Heiratsverhaltens an das der christlichen Oberschicht, ablesbar unter anderem an einer durch Konversion, Nobilitierung und rechtliche Emanzipation ermöglichten Erweiterung des Heiratskreises auf das nichtjüdische Bürgertum.
Sodann vermisst Keuck den rechtlichen Rahmen der familiären Existenz und geht auf die preußische Judenpolitik ein (97-130). Dabei charakterisiert sie die Normgebung als restriktiv und weist zutreffend auf die fiskalischen Motiven geschuldeten Widersprüche hin, die einer wirklichen "Verrechtlichung" entgegenliefen. [1] Durch das 1761 erworbene Generalprivileg gelang es Itzig, für sich und seine Familie zahlreiche im Generalreglement von 1750 dekretierte Niederlassungs- und Handlungsbeschränkungen abzuschütteln. Wichtig ist deshalb Keucks Hinweis auf die große Bedeutung, die das Generalprivileg für Itzigs Heiratsnetzwerk spielte, da seine Schwiegersöhne durch die Einheirat in seine Familie zugleich ihren Rechtsstatus verbessern konnten (104). 1791 kam die Familie sogar in den Genuss eines Naturalisationspatents (während die von Friedrich Wilhelm II. geplante "Reform des Judenwesens" rasch im Sande verlief). Keuck weist allerdings die ältere Forschungsansicht zurück, die das Patent als "Emanzipation vor der Emanzipation" (Peter Baumgart) interpretiert hat. Stattdessen verortet die Autorin das Dokument überzeugend im Kontext der überkommenen Privilegienpolitik, wobei sie nachweisen kann, dass die Naturalisation nur auf Widerruf gewährt wurde und die weibliche Deszendenz teilweise ausklammerte.
In engem Zusammenhang mit Heiratspolitik und rechtlicher Sonderstellung stand der exzeptionelle ökonomische Erfolg der Familie Itzig (131-169). Keuck referiert die Tätigkeit Itzig ben Daniel Jafes als Heereslieferant, das Wirken seines Sohnes Daniel als Münzjude im Siebenjährigen Krieg und dessen vom König forciertes großgewerbliches Engagement nach 1763 bis hin zum Bankrott des Enkels und Hofbankiers Isaac Daniel Itzig 1796/97 (wobei Heinrich Schnee heute allerdings nicht mehr unkritisch zitiert werden sollte). [2] In der vierten und fünften Generation vollzog sich im Laufe des 19. Jahrhunderts bei steigenden Konversionszahlen eine berufliche Umorientierung hin zu bildungsbürgerlichen Berufen.
Breiten Raum nimmt sodann eine Analyse des Einflusses der Itzigs auf die Berliner jüdische Gemeinde ein (171-310). Der wirtschaftliche Erfolg führte Daniel Itzig 1762 in das Amt eines Oberältesten der Berliner Gemeinde, wo er als Anhänger einer "traditionsorientierten religiösen Observanz" (193) auftrat und eine Mittlerfunktion zwischen Befürwortern und Gegnern der Haskala übernahm. Als Oberlandesältester dehnte er seine Zuständigkeit 1775 (gemeinsam mit Jacob Moses) auch auf die Provinzjudenschaften aus. Keuck betont zu Recht die mit dem Amt verbundenen Schwierigkeiten im Spannungsfeld zwischen obrigkeitlichen und innerjüdischen Interessen, zeichnet jedoch gleichwohl ein zu harmonisches Bild der Beziehungen zwischen den Juden Berlins und denen in den Provinzen (187). Eine Rezeption der Studien Daniel J. Cohens hätte stattdessen gerade für die Amtszeit Daniel Itzigs schwere, durch das ökonomische Auseinanderdriften noch verschärfte innerjüdische Spannungen zu Tage gefördert. [3]
Neben Daniel Itzig waren in der zweiten Jahrhunderthälfte zahlreiche weitere Familienmitglieder in der Gemeindeverwaltung vertreten, bevor sich die Itzigs in den 1790er Jahren weitgehend aus der Kehilla (Gemeinde) zurückzogen. Den Hintergrund dieser Entwicklung bildeten der beginnende ökonomische Niedergang der Familie, Streitigkeiten um die Auslegung der im Naturalisationspatent vorgesehenen Abgabenbefreiung und vor allem der wachsende Widerstand traditionell ausgerichteter Gemeindemitglieder gegen die sich schrittweise radikalisierende Haskala, mit der zahlreiche Mitglieder der Familie Itzig sympathisierten. Ablesbar ist dies an Mitgliedschaften in aufgeklärten jüdischen Vereinen wie der 1792 gegründeten "Gesellschaft der Freunde", der Förderung des hebräischen Buchdrucks und einem ausgeprägten Mäzenatentum zugunsten zahlreicher Maskilim (Aufklärer), von denen mehrere als Hauslehrer bei den Itzigs wirkten und so ein Aufenthaltsrecht in Berlin erlangen konnten: "Den Maskilim standen damit Kommunikationswege zur Verfügung, deren Existenz aus der sozio-ökonomischen Machtstellung der Itzigs herrührte." (260)
Besondere Bedeutung besaß die 1778 als Itzigsches "Familienprojekt" (290) von Isaac Daniel Itzig und David Friedländer gegründete Freischule, in der nicht länger religiöse, sondern säkulare, teilweise von Christen unterrichtete Lehrinhalte im Vordergrund standen. Keuck hebt dabei hervor: "Gründung und Finanzierung der Freischule waren im Wesentlichen das Resultat familialer Netzwerkaktivitäten". (307) Im Zuge von Konversion und einer Säkularisierung von Wohltätigkeit nahm die Förderung, die die Itzigs der Institution angedeihen ließen, im 19. Jahrhundert allerdings deutlich ab. Abschließend analysiert Keuck die zahlreichen Facetten des "kulturellen Verbürgerlichungsprozesses". Thematisiert werden unter anderem die Mitgliedschaften in nichtjüdischen Aufklärungsgesellschaften, die von Familienmitgliedern gepflegte Hausmusik, Aufenthalte in Kurbädern und das Itzigsche Palais in Berlin, in dem sich aristokratischen Vorbildern nachempfundener Repräsentationsanspruch mit Bedürfnissen der jüdischen Religion (Synagoge, Laubhütte) architektonisch verband.
In ihrem Resümee wendet sich Keuck gegen die bislang vorherrschende Ansicht, wonach die Itzigs ihren gesellschaftlichen Einfluss um 1800 weitgehend eingebüßt hätten, und interpretiert den Wandlungsprozess stattdessen als "Elitenwechsel". Ausgehend von einer durch Funktionen im absolutistischen Staat gekennzeichneten Funktionselite (Hofjuden) sei den Itzigs mehrheitlich der Eintritt in eine sich konstituierende kulturbürgerliche, auf gesellschaftlichem Ansehen basierende Reputationselite gelungen. Voraussetzung blieb freilich die Konversion in Form einer individuellen Emanzipation. Als Juden blieb den Itzigs die volle Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft verwehrt. Ein umfangreicher Anhang mit Stammbäumen und einem Personenverzeichnis (gegebenenfalls auch mit Foto des Grabsteins und Transkription der Inschrift) rundet den durch Personen- und Ortsregister erschlossenen Band ab. Auf breiter empirischer Basis hat Keuck damit eine perspektivenreiche Studie vorlegt, die durch gute Lesbarkeit und umsichtige Urteile überzeugt.
Weiteren Forschungsbedarf sieht der Rezensent indes hinsichtlich der Tragfähigkeit des Hofjudenbegriffs unter Berücksichtigung des friderizianischen Herrschaftssystems, das auf einer weitgehenden räumlichen Distanzierung des in Potsdam residierenden Monarchen von den in Berlin situierten Hof- und Verwaltungsbehörden beruhte (Kabinettsregierung). Vor diesem Hintergrund war die stadttopographische Nähe des Palais Itzig zum Berliner Stadtschloss eben nicht gleichbedeutend mit einer von Keuck konstatierten räumlichen Nähe zum König (313). Ferner wäre nach den qualitativen Unterschieden zwischen der Position der Itzigs und jener der übrigen generalprivilegierten und im Großgewerbe engagierten Familien des Residenzraums Berlin-Potsdam zu fragen, ebenso nach denen zwischen Daniel Itzig und Jacob Moses, seinem Kollegen im Amt des Oberlandesältesten. Für diese und andere Fragen liegt mit Keucks gewichtiger Studie nun eine vorzügliche Grundlage vor.
Anmerkungen:
[1] Vgl. mit ähnlichem Befund Tobias Schenk: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des "Aufgeklärten Absolutismus" in Preußen (1763-1812) (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 39), Berlin 2010.
[2] Vgl. Stephan Laux: "Ich bin der Historiker der Hoffaktoren". Zur antisemitischen Forschung von Heinrich Schnee (1895-1968), in: Jahrbuch des Simon Dubnow Instituts 5 (2006), 485-514.
[3] Daniel J. Cohen: Die Landjudenschaften der brandenburgisch-preußischen Staaten im 17. und 18. Jahrhundert - Ihre Beziehungen untereinander aufgrund neuerschlossener Quellen, in: Peter Baumgart (Hg.): Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung, Berlin 1983, 208-229.
Tobias Schenk