Michael Stolleis: "recht erzählen". Regionale Studien 1650-1850 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; Bd. 341), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2021, VII + 229 S., ISBN 978-3-465-04560-1, EUR 28,00
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Der vorliegende Band kann als wissenschaftliches Vermächtnis seines Autors betrachtet werden, der unmittelbar nach Fertigstellung des Manuskripts im März 2021 verstarb. Als langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte hat Stolleis das Fach nicht nur wissenschaftspolitisch geprägt, sondern auch durch zahllose eigene Publikationen vorangebracht. Während er in seiner zwischen 1988 und 2012 in vier Bänden erschienenen Geschichte des öffentlichen Rechts seine Fähigkeit zur Synthese unter Beweis stellte, versammelt seine letzte Arbeit acht rechtshistorische Miniaturen, die durch ihren regionalen Bezug zur Pfalz eher lose miteinander verbunden sind. Die eigentliche Klammer ist methodischer Natur. Stolleis geht es um die Frage, wie man Recht recht erzählt. Hierzu unternimmt er eine "praktische Erkundung der Grenzlinie zwischen fiktiver und historisch belegbarer Erzählung" (14), die er mit Reflexionen über die Sprache des Rechts und deren geschichtlich gewachsene Metaphern, über das Verhältnis von Theorie und Empirie und den heuristischen Wert des Einzelfalls einleitet.
Um diese Überlegungen zu konkretisieren, taucht Stolleis zunächst in das protestantische Eherecht der Frühen Neuzeit ein. Als konfliktbeladenes Fallbeispiel zieht er die 1650 zur linken Hand eingegangene Ehe von Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz und Luise von Degenfeld heran. Unter Umgehung des Konsistoriums schied sich Karl Ludwig von seiner Gemahlin Charlotte von Hessen-Kassel und ließ diesen selbstherrlichen Akt durch die bestellte Doktordisputation eines Karrierejuristen legitimieren. Anonyme theologische Schmähschriften, in denen der Fürst der Bigamie beschuldigt wurde, ließen sich auf diese Weise allerdings nicht verhindern.
Im umfangreichsten Beitrag des Bandes lotet Stolleis sodann Möglichkeiten und Grenzen einer Juristenbiographie am Beispiel Johann Theodor Sprengers (1630-1681) aus. Dieser entstammte einer Juristenfamilie aus der Wetterau und entfaltete nach 1648 eine rege publizistische Tätigkeit auf dem Feld des jus publicum, das in jenen Jahren durch den Westfälischen Friedensvertrag und den Jüngsten Reichsabschied wichtige Impulse erhielt. Sprengers durch einen zeittypischen Hang zur enzyklopädischen Ausbreitung von Wissensbeständen gekennzeichnete Veröffentlichungen zeugen durch Themenwahl und Widmung an bedeutende Persönlichkeiten zugleich von den auf den Kaiserhof gerichteten Karrierehoffnungen ihres Autors.
Nach einer Tätigkeit als hessen-darmstädtischer und sachsen-magdeburgischer Rat und einer publizistisch verarbeiteten Reise nach Rom wechselte Sprenger 1663/64 als Geschäftsträger des Herzogs von Pfalz-Zweibrücken und der Fürstäbtissin zu Herford an den Immerwährenden Reichstag. Auf der "Drehscheibe Regensburg" (Susanne Friedrich) gelang es ihm offensichtlich, Kontakte zum Erzbischof von Salzburg zu knüpfen, der als kaiserlicher Prinzipalkommissar in der Stadt residierte. Sprenger trat nach Konversion zum Katholizismus jedenfalls in salzburgische Dienste und stieg 1677 zum Hofkanzler auf. Dass sich der Konvertit bei den Hexenprozessen, die zu jener Zeit in Salzburg ihrem Höhepunkt entgegenstrebten, besonders exponiert hätte, lässt sich anhand der ausgewerteten Quellen allerdings nicht nachweisen. Stolleis verbindet seine biographische Studie mit hellsichtigen Bemerkungen über die zahlreichen Abhängigkeiten, in die der sich sukzessive professionalisierende Stand der Juristen eingebunden war, und über die Grenzen einer archivalischen Überlieferung, in der die Frage nach den Innenansichten der Akteure häufig unbeantwortet bleibt.
Der sich anschließende Reigen kleinerer Beiträge beginnt mit einem Aufsatz über die durch den Pfälzischen Erbfolgekrieg hervorgerufene Migration von Wallonen und Pfälzern nach Magdeburg und deren Privilegierung durch den Kurfürsten von Brandenburg. Daran schließen sich Überlegungen zur Wechselwirkung zwischen Exklusionsmechanismen und frühneuzeitlicher Staatsbildung am Beispiel der sukzessiven Kriminalisierung von Bettlern und Vaganten durch die pfälzischen Policey-Ordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts an. Umsichtig wägt Stolleis die intendierten Repressionen gegen die begrenzten obrigkeitlichen Durchsetzungsmöglichkeiten auf lokaler Ebene ab.
Dass die Förderung der Seidenproduktion keineswegs auf Preußen beschränkt blieb, illustriert ein Aufsatz über den aus Württemberg zugewanderten Jean Pierre Rigal (1688-1767), der 1758 ein mit einem Monopol verbundenes Privileg zur Anlage einer Seidenmanufaktur in Heidelberg erhielt. Bei zahlreichen Untertanen war der zeitweilig florierende Betrieb überaus unpopulär, wie die mutwillige Beschädigung zahlreicher Maulbeerbäume zeigt. Der Kurfürst gab dem wachsenden Druck schließlich nach und widerrief das mittlerweile von Rigals Witwe und einigen Mitgesellschaftern genutzte Privileg 1793, was Stolleis mit der schwindenden Akzeptanz von Privilegien in der Sattelzeit in Verbindung bringt.
Revolutionär wird es in den folgenden beiden Beiträgen. Zunächst geht es um ein Rechtsgutachten des Heidelberger Juraprofessors Heinrich Zoepfl (1807-1877) zugunsten eines publizistisch umtriebigen Studenten, der im Anschluss an das Hambacher Fest wegen Aufrufs zur Gewalt unter Anklage stand. Sodann wird ein 1850/51 vor einem Zweibrücker Sondertribunal geführter Strafprozess gegen 291 Personen behandelt, die man der Beteiligung am Pfälzischen Aufstand von 1849 beschuldigte. Schlaglichter aus der tragikomischen Welt adeliger Mesalliancen beschließen den Band. Dabei reicht der Bogen von der 1848 als Tochter eines Eisenbahnschaffners geborenen Gräfin Magdalena von Leiningen-Neudenau bis zu Karl Emich von Leiningen, der seit 2014 als Nikolaus III. Anspruch auf den russischen Zarenthron erhebt.
Die Miniaturen summieren sich also zu einem thematisch überaus bunten Strauß, der durch die Fähigkeit seines Autors zusammengehalten wird, zugleich unprätentiös und stilistisch glänzend zu erzählen. Was die Darstellung jedoch vor allem auszeichnet, ist das konsequente Bemühen, rechtliches Wissen nicht isoliert zu betrachten, sondern in seinem durch Machtbeziehungen geprägten Verwertungskontext zu verorten. Stolleis besaß einen weiten, über Fach- und Epochengrenzen hinausreichenden Blick, der in der Justizforschung keineswegs selbstverständlich ist und deshalb vermisst werden wird. Mit dem Band, dem man auch Literaturverzeichnis und Register hätte spendieren können, hält man den würdigen Abschluss eines großen Forscherlebens in Händen.
Tobias Schenk