Jacques Krynen / Michael Stolleis: Science politique et droit public dans les facultés de droit européennes (XIIIe-XVIIIe siècle) (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; Bd. 229), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2008, X + 630 S., ISBN 978-3-465-04041-5, EUR 99,00
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Die von den beiden Herausgebern Jacques Krynen und Michael Stolleis im September 2006 in Toulouse veranstaltete Tagung, deren Ergebnisse hier vorgelegt werden, galt dem politisch-juristischen Denken des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Im Zentrum standen die Entstehung des öffentlichen Rechts als eigenständige wissenschaftliche Disziplin und die Herausbildung eines speziell auf Staat und Verwaltung bezogenen Lehrkanons der juristischen Fakultäten. Weitere Leitfragen bezogen sich auf die Verwendung und Anpassung der antiken Terminologie und des römischen Rechts in Mittelalter und Früher Neuzeit, auf die Beziehungen zwischen Lehre, Politik und Rechtspraxis und auf die Etablierung des ius publicum im 17. Jahrhundert.
Von Einleitung und Zusammenfassung umrahmt enthält das Buch 31 Beiträge sehr unterschiedlicher Länge. Es gibt keine voneinander abgegrenzten Themenblöcke. Stattdessen versucht der Band, "thematische Nähe und chronologische Abfolge" zu harmonisieren (IX). Der zeitliche Rahmen umspannt das 13. bis 18. Jahrhundert. Bei der Auswahl der Teilnehmer wurden bewusst Rechtshistoriker, Mediävisten und Spezialisten der Frühen Neuzeit aus verschiedenen europäischen Ländern zusammengeführt. In geographischer Hinsicht werden v.a. Italien, Frankreich, das mittelalterliche deutsche Reich und Spanien (Kastilien und Katalonien) behandelt. Da bei jeder Übersetzung zwangsläufig einige Aspekte verloren gehen, ist es im Interesse der sprachlichen und inhaltlichen Präzision der jeweiligen juristischen Terminologie und der Untersuchung länderspezifischer Besonderheiten sehr begrüßenswert, dass die Beiträge des Bandes in mehreren Sprachen veröffentlicht wurden. Doch auch mittelalterliche Autoren hatten ein je spezifisches Übersetzungsproblem, dem Susanne Lepsius nachgeht, wenn sie "Übersetzungsleistungen und Neuschöpfungen mittelalterlicher Legisten im Umgang mit den römischen Ämtern" untersucht. Generell eröffnet dieser Bereich noch zahlreiche interessante Ansatzpunkte komparatistischer Forschung.
Auf den ersten Blick fallen zunächst die erheblichen chronologischen Unterschiede und regionalen Besonderheiten ins Auge. Während im Mittelalter die italienische Rechtswissenschaft und die Tätigkeit großer Juristen wie Bartolus und Baldus auf ganz Europa ausstrahlte, entwickelte sich die neue Disziplin des ius publicum im 17. Jahrhundert an deutschen Rechtsfakultäten besonders rasch und intensiv. In Italien dauerte es wesentlich länger, bis es zu einer Verankerung des neuen Fachs in Form eigenständiger Lehrstühle kam (Pisa, 1726, Pavia, 1742 etc., Artikel von Italo Birocchi). Gerade solche Unterschiede zeigen jedoch, wie erkenntnisfördernd der europäische Vergleich sein kann. Im konfessionell gespaltenen Reich und im mittelalterlichen Italien der starken Stadtstaaten waren reichsständische und städtische Interessen ein wichtiger Katalysator der Entstehung des "Öffentlichen Rechts". Wie mehrere Autoren hervorheben, verlief in Italien ein wichtiger Entwicklungsstrang auf dem Weg über das jeweilige Stadtrecht bzw. das sogenannte ius patrium. In Frankreich spielten nicht nur die Universitäten, sondern auch große Institutionen wie das "Parlement" und der Dienst innerhalb der königlichen Verwaltung eine zentrale Rolle. Patrick Arabeyre und Patrick Gilli, deren Aufsätze zu den interessantesten des Bandes gehören, weisen zudem auf den entscheidenden Einfluss des Kanonischen Rechts, der Auseinandersetzungen zwischen weltlicher und geistlicher Macht sowie auf die Existenz eines "versteckten" Reservoirs politischer Reflexion innerhalb der traditionellen juristischen Lehrfächer hin (309). Diese Beobachtung ließe sich für Frankreich zusätzlich durch den Hinweis auf die in den Plaidoiries des Parlements überlieferten Diskussionen der Rechtspraxis ergänzen, die spätere theoretische Kategorien oft bereits vorwegnahmen.
In fast allen vorgestellten Universitäten kam der Persönlichkeit einzelner Juristen eine große und manchmal sogar eine entscheidende Bedeutung zu. Durch ihre Werke, aber vor allem durch ihre Schüler gelang es ihnen, ihren Ideen die notwendige Breitenwirkung zu verschaffen. Ebenso wie ein von Jacques Krynen vor kurzem herausgegebenes Nachschlagewerk zu französischen Juristen behandeln deshalb eine Reihe von Beiträgen Einzelpersonen wie Pierre de Belleperche, Francesco Zabarella, Rodrigo Suárez, bzw. "Schulen" oder die vier Doctores Tholosani.
Die Entstehung des öffentlichen Rechts fand jedoch nicht nur an den Universitäten statt. In ganz Europa verbreitete politische Traktate, Schriften zur Verteidigung des Absolutismus, zum Natur- und Völkerrecht (Pufendorff, Grotius usw.), Diskussionen über Grundsatzfragen wie die Garantie von Untertanenrechten, die Gesetzgebungskompetenz oder die "Translationstheorie" fügten ihrerseits immer wieder entscheidende Elemente hinzu. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang vor allem die Untersuchungen von Jürgen Miethke (zu Lupold von Bebenburg und Peter von Andlau), von Thomas Wetzstein zur "Translationstheorie" sowie der Artikel von Orazio Condorelli zu Francesco Zabarella und dem kanonischen Recht. Der Vergleich und die statistische Erfassung juristischer Dissertationen deutscher Rechtsfakultäten (Karl Härter) sind für Universitätshistoriker von Interesse, während der mit ausführlichen Zitaten und Belegen versehene Aufsatz von Francisco Luis Pacheco Caballero interessantes Material zur Thematik der Enteignung und des Gemeinwohlbegriffes anbietet. Die Darstellungen von Victor Crescenzi zur öffentlichen Gewalt und zu Richtern sowie von Alain Wijffels ermöglichen die Vertiefung dieses zuletzt genannten Aspektes.
Zahlreiche Autoren betonen zu Recht die starken Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. In der Regel fehlen starke Brüche, ein methodisches Umdenken innerhalb der Fakultäten ging oft allmählich vor sich. Immer wieder kam es zu "Richtungswechseln" im Werk einzelner Autoren, die in verschiedenen Phasen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit unterschiedlichen Modellen folgten. Selbst im Falle der beiden äußerst einflussreichen juristischen Methoden des mos italicus und des mos gallicus lassen sich immer wieder "Übergangssituationen" nachweisen. In allen untersuchten europäischen Regionen war das historische Interesse ein zentrales Motiv für die Beschäftigung mit Politik und "öffentlichrechtlichen" Themen. Viele der vorgestellten Juristen verfassten zugleich historische Werke oder gaben Quelleneditionen der aus ihrer Sicht wichtigsten Texte der Vergangenheit heraus. Wie Michael Stolleis überzeugend darstellt, lieferten die umfangreiche Sammeltätigkeit und die Editionen von Melchior Goldast von Haiminsfeld und einigen weiteren Gelehrten für lange Zeit unverzichtbare neue Argumentations- und Arbeitsgrundlagen.
Insgesamt gesehen bietet der Band ein sehr großes Spektrum unterschiedlicher "Binnenthemen". Manche Beiträge zu einzelnen Universitäten oder Personen sind sehr speziell und werden sicherlich besonders "vor Ort" ihre Leser finden. Andere Artikel betreffen wichtige Grundfragen der europäischen Politik- und Rechtsgeschichte, der wissenschaftlichen Theoriebildung und der Methodik. Alles in allem handelt es sich um ein sehr heterogenes, aber äußerst interessantes und informatives Buch, das sowohl für das Mittelalter als auch für die Frühe Neuzeit ein vielfältiges Leseangebot bereitstellt und unterschiedlichsten Interessenschwerpunkten sehr gut gerecht wird.
Gisela Naegle