Rezension über:

Winfried Schulze: Die Verdrängung. Der Weg des Juristen Helmut Schneider von Auschwitz nach Goslar (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 127), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, 155 S., 2 Farb-, 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-108539-5, EUR 24,95
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Rezension von:
Lena Haase
Forschungsstelle SEAL, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Lena Haase: Rezension von: Winfried Schulze: Die Verdrängung. Der Weg des Juristen Helmut Schneider von Auschwitz nach Goslar, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/10/38851.html


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Winfried Schulze: Die Verdrängung

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Helmut Schneider war Jurist, als solcher von Oktober 1941 bis Januar 1945 in der Personalabteilung der IG Farben in Auschwitz-Monowitz tätig und dort unter anderem für die Planung des Arbeitseinsatzes zuständig. Im Nürnberger IG Farben-Prozess sagte er lediglich als Zeuge aus, wurde in einem Strafprozess 1949/50 wegen Mangels an Beweisen freigesprochen und auch im Entnazifizierungsverfahren stellte man weder Täter- noch Mittäterschaft fest. 1945 wurde Schneider Stadtassessor in Goslar, von 1949 bis 1968 bekleidete er das Amt des Oberstadtdirektors. Diese über 1945 hinaus ungebrochene Karriere als Jurist scheint zunächst keine Besonderheit zu sein, belegen doch zahlreiche Studien die teils nahtlosen Karrierewege ohne eine juristische Ahndung etwaiger Beteiligung an oder der eigenhändigen Ausführung von Verbrechen während der NS-Zeit. Winfried Schulze legt eindrücklich dar, dass das Urteil im Falle Helmut Schneider nicht so pauschal zu fällen ist und sich seine Biografie auszeichnet durch "Widersprüche, die kaum aufzulösen sind [und] Verhaltensweisen, die nicht zueinanderpassen" (137).

Die Studie ist in zwölf Kapitel gegliedert, von denen neun (Kapitel 2 bis 10) die Etappen der Biografie darlegen. Ein weiteres Kapitel (11) widmet sich der Frage, wie Schneider die "Erfahrung von Auschwitz" verarbeitet hat. In der Einleitung skizziert Schulze, wie nicht er das Forschungsthema, sondern das Thema ihn fand: eine Freundin erwähnte - wohl beiläufig -, sie sei in Auschwitz geboren, was Schulze hellhörig werden ließ und ihn zur eingehenderen Beforschung veranlasst habe. Die Annäherung an Schneiders Biografie kann gelesen werden als "Beispiel für ein individuelles moralisches Dilemma und für die komplexen deutschen Lebenswege im 20. Jahrhundert" (6) und verlangt geradezu danach, die Frage nach Handlungsmöglichkeiten und -grenzen zu stellen. Ungeachtet der bereits umfangreichen Forschung zu Auschwitz und den dort beschäftigten Personen wurde Helmut Schneider in seiner zentralen Rolle bei der IG Farben in der deutschen Forschung bisher nahezu ignoriert. Die französische Forschung nimmt ihn hingegen lediglich unkritisch als den "anti-nazi assesseur Schneider" wahr, der die "Chantiers de la jeunesse française" (CJF) im Lager betreute.

In den Kapiteln 2 bis 6 zeichnet Schulze überzeugend das Bild eines Mannes, dessen Liebe zur französischen Kultur sich bereits in seiner Jugend ausprägte und der sich früh vom Nationalsozialismus distanzierte. Insbesondere den sich auflösenden Rechtsstaat in NS-Deutschland kritisierte Schneider bereits während seines Studiums. Dennoch verlief sein Berufseinstieg unproblematisch und er wurde zunächst Referent bei der IHK. 1940 war er ein halbes Jahr im Briefzensurdienst des OKW beschäftigt. Seine Tätigkeit für die IG Farben begann er zunächst in Pöllnitz und wechselte im Oktober 1941 in das neu zu errichtende Werk in Auschwitz-Monowitz. Dort war er u.a. zuständig für den Häftlingseinsatz und als Leiter der Rechtsabteilung auch für die Einweisung sogenannter "Arbeitsbummelanten" ins Erziehungslager. Wenn er auch in seinen Vernehmungen durch die Strafverfolgungsbehörden nach 1945 angab, erst nach Kriegsende vom industriell betriebenen Völkermord in Auschwitz erfahren zu haben, so zeichnet Schulze auf Grundlage der Quellen das Gegenteil nach. Während Schneider demnach in Auschwitz sehr wohl über die tausendfache Ermordung im Bilde gewesen sein musste, so pflegte er im Lager Monowitz eine enge und freundschaftliche Verbindung zu den Franzosen der CJF, über die er sogar mittelbar die französische Résistance unterstützte. Er setzte sich für ihre teilweise Autonomie im Lager ein und kümmerte sich um Urlaubsfahrten, Verpflegung und deren Arbeitseinsatz. Am 21. Januar 1945 ging Schneider im Rahmen der Auflösung des Lagers sogar gemeinsam mit "seinen Franzosen" auf den Marsch ins Reichsinnere, der für viele Häftlinge ein Todesmarsch sein sollte - nicht so jedoch für die von Schneider umsorgten Franzosen. Zwischen ihm und Georges Jacques Toupet, der sich zum Kopf einer Führungsgruppe aller im Lager befindlichen Franzosen aufschwang, entwickelte sich in Auschwitz eine enge Freundschaft, die auch in der Nachkriegszeit anhielt. Bereits unmittelbar nach dem Abmarsch aus Monowitz bescheinigten sie sich gegenseitig ihre Unbescholtenheit - ein planvolles Unterfangen, das Schulze nicht umsonst als "strategisch" kennzeichnet (71). Die enge Verbindung Schneiders nach Frankreich führte - wie in Kapitel 9 dargelegt - schließlich auch zu einer Städtepartnerschaft zwischen Goslar und Arachon, wo einer der noch aus Auschwitz bekannten Franzosen inzwischen lebte und arbeitete.

In den folgenden Kapiteln 7 und 8 steht die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit - vom Nürnberger IG Farben-Prozess über das Strafverfahren gegen Schneider vor dem Landgericht Braunschweig und seine Entnazifizierungsverfahren - im Zentrum. In Nürnberg sagte Helmut Schneider freiwillig für seinen Vorgesetzten Walter Dürrfeld aus, der als Betriebsleiter des Buna-Werkes in Monowitz auf der Anklagebank saß. Dies ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: erstens zweifelte Schneider die Gültigkeit der Rechtsprechung des Internationalen Militärtribunals als "Siegerjustiz" an und stellte die Gerechtigkeit der Urteile in Zweifel. Zweitens machte er während seines Verhörs am 14. April 1948 eine bewusste Falschaussage, indem er zu Protokoll gab, er habe in Monowitz nichts Illegales bemerkt oder gesehen und die Gründe für die hohe Fluktuation der Häftlinge seien nicht zu eruieren gewesen. Diese Aussage dekonstruiert Schulze unter Zuhilfenahme von Selbstzeugnissen aus der Zeit in Auschwitz und der Nachkriegszeit.

Insbesondere mit Blick auf die teils philosophisch-politischen, teils biografischen Arbeiten von Schneider nach 1945 scheint es so, als würde dieser die deutsch-französische Freundschaft und deren Beginn in Auschwitz besonders deshalb überhöhen, um sich nicht mit seinem Gewissen auseinandersetzen zu müssen. Dies resultiert nicht zuletzt auch in der unterschiedlichen Bewertung der in Auschwitz-Monowitz anwesenden Häftlinge und sonstigen Internierten. Deutlich heraus sticht jedenfalls seine bessere Wertung der französischen und italienischen Zwangsarbeiter gegenüber den sogenannten "Ostarbeitern" und KZ-Häftlingen.

Ähnlich ambivalent stellt sich Schneiders Positionierung in der jungen Bundesrepublik dar. Trotz konservativer Grundüberzeugungen trat Schneider der SPD bei, ohne sich jedoch aktiv einzubringen. Er nahm am Begräbnis von Richard Walther Darré teil und die Stadt Goslar übernahm unter ihm die Bestattungskosten für ihren damaligen Ehrenbürger. Einer seiner engsten Freunde sollte Ernst Jünger werden, mit dem er einen regen Briefkontakt pflegte. Im März 1967 hielt Schneider - ein Jahr vor seinem eigenen Tod - die Grabrede für Walter Dürrfeld ohne Auschwitz auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Er verstarb am 23. März 1968 nach einem Herzinfarkt, der ihn auf einer SPD-Veranstaltung ereilt hatte.

Auch wenn sich sein Leben zwischen 1940 und 1968 mehrfach und ausführlich um Auschwitz drehte, so scheint eine innere Beschäftigung mit und ein Nachdenken über die Verbrechen im Lager in den hinterlassenen Aufzeichnungen nicht greifbar zu sein. Schneider habe Auschwitz - so Schulze - regelrecht verdrängt und bis zuletzt begangene Kollektivverbrechen geleugnet. Es verwundert zudem, dass er nicht auf die Auschwitzprozesse reagiert hat. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit seinen Erinnerungen an die Zeit in Auschwitz ging er zuletzt auch nicht auf direkte Anfrage von Hermann Langbein 1967 ein.

Winfried Schulze vertritt die These, dass Schneider seine französischen Freunde zum Anlass einer doppelten "Verdrängung" genommen habe, und zwar zunächst in Auschwitz und dann im Nachkriegs-Goslar. Die erste Verdrängung habe folglich insbesondere dem Schicksal der zur Arbeit in den Buna-Werken eingesetzten KZ-Häftlinge gegolten - die zweite Verdrängung in der Nachkriegszeit durch die konsequente Umgehung der Auseinandersetzung mit Auschwitz. Ob der Begriff der "Verdrängung" nun nach Abwägung aller Ergebnisse der passende ist, sei dahingestellt. Er verdeutlicht jedoch, wie Schulze seine Forschungen zu Schneider und seine Herangehensweise an dessen Biografie gestaltete. Ihm ging es nicht so sehr um die Erarbeitung einer "klassischen" biografischen Studie zu einem als systemischer Mittäter oder gar Täter zu beschreibenden Mann, sondern um die Sichtbarmachung "historischer Brüche" (4) innerhalb einer Biografie und die Nutzung von Handlungsoptionen zur Konkretisierung komplexerer Phänomene. Schneiders Biografie eignet sich für diese Fragestellung besonders, vereinte er doch in sich neben der Tatsache, als Jurist zur gesellschaftlichen Elite zu zählen, den Nationalsozialismus inhaltlich abzulehnen aber sich dennoch in Auschwitz (!) in seinen Dienst zu stellen, die Nachkriegsjustiz der Alliierten als "Siegerjustiz" abzulehnen und seine berufliche Karriere nach 1945 ungebrochen fortzusetzen auch, dass er seit den 1920er Jahren ein ungebrochen enges Verhältnis zu Frankreich hatte. Biografien als Sonden zum Verständnis für komplexe und von Umbrüchen gezeichnete Zeiträume zu nutzen, erweist sich so einmal mehr als gewinnbringend.

Schulzes Studie zu Helmut Schneider zeichnet sich durch eine umfangreiche Quellenarbeit aus, die den Privatnachlass der Familie und die Schriften Schneiders erschlossen hat, um sie mit den übrigen archivischen Überlieferungen in Verbindung bringen zu können. Der ausgesprochen kurzweilige Schreibstil macht das Buch zudem zu einem Lesevergnügen, in dem komplexe Sachverhalte angemessen erläutert und gekonnt mit den Wahrnehmungen Schneiders in Bezug gesetzt werden. Einzig bei der Bewertung von Schneiders Auftreten im Nürnberger Prozess wird eine leichte Bewunderung Schulzes für Schneider im Umgang mit dem Anklagevertreter Minskoff im Kreuzverhör erkennbar. Dies schmälert den Wert der Studie und die Präzision in der Quellenarbeit jedoch keineswegs.

Lena Haase