Rezension über:

Annemone Christians: Das Private vor Gericht. Verhandlungen des Eigenen in der nationalsozialistischen Rechtspraxis (= Das Private im Nationalsozialismus; Bd. 2), Göttingen: Wallstein 2020, 316 S., ISBN 978-3-8353-3688-9, EUR 29,00
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Rezension von:
Lena Haase
Forschungsstelle SEAL, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Lena Haase: Rezension von: Annemone Christians: Das Private vor Gericht. Verhandlungen des Eigenen in der nationalsozialistischen Rechtspraxis, Göttingen: Wallstein 2020, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/36490.html


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Annemone Christians: Das Private vor Gericht

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Robert Ley verkündete 1938 auf einer Veranstaltung der Deutschen Arbeitsfront (DAF), dass es in Deutschland keine Privatsache mehr gebe und dass "die Zeit, wo jeder tun und lassen konnte, was er wollte" vorbei sei. Der Anspruch des nationalsozialistischen Deutschlands war mitunter die "totale" Durchdringung der sogenannten "Volksgemeinschaft", was auch das Privatleben einschloss. Diesem "Verhältnis von privaten Lebensentwürfen und öffentlichen Gewaltansprüchen" (7) widmete sich von 2013 bis 2017 ein Forschungsprojekt am Institut für Zeitgeschichte in München, in dessen Kontext die vorliegende Studie entstanden ist.

Christians postuliert gleich zu Beginn, dass Privatangelegenheiten und öffentliche Gewalt nirgends so "unmittelbar aufeinander[trafen] wie vor Gericht" (11) und widmet sich in ihrer Untersuchung besonders der tatsächlichen Rechtsprechung vor Ort. So können Handlungsspielräume von Richtern, Anwälten und letztlich auch der "Volksgenoss*innen" ausgeleuchtet und das "praktische Rechtsleben" (12) mit einem besonderen Fokus auf die unteren Instanzen (Amts- und Landgerichte) in den Blick genommen werden. Die Studie gliedert sich in fünf Teile, in denen zunächst die Bedeutung des Rechts im "totalen" Staat und "juristische Verfahrensregeln im NS-Staat" beleuchtet werden, bevor anhand von drei Beispielen das "Private vor Gericht" dargestellt wird. Ein Großteil bisheriger - häufig von Jurist*innen und Rechtshistoriker*innen verfassten - Studien, die sich mit der nationalsozialistischen Rechtserneuerung auseinandersetzen, verhaften häufig in einer Auseinandersetzung mit den normativen Rahmungen, widmen sich jedoch kaum der Spruchpraxis. Diesen Mangel gleicht Christians mit ihrer Studie ein Stück weit aus und setzt es sich zum Ziel, "Entscheidungsspielräume, Wertzuschreibungen und soziale Praktiken im Rechtsleben" (28) freizulegen. Die angestrebte Freilegung dieser Entscheidungsspielräume im Zuge der Verfahrensfindung schließt auch die Berücksichtigung der Handlungsmacht der Akteure - speziell auch der Richter - ein. Es kann sicher nicht von homogenen Spruchkörpern ausgegangen werden, die "äußerlich wie habituell deutlich als Teil des Regimes zu erkennen [waren und] von de[nen] also keine (politische) Neutralität zu erwarten war." (100) Diese Schlussfolgerung erscheint zu generalisierend, bestand doch ein hohes Maß an individueller Handlungsmacht innerhalb der Richterschaft, die Christians bei der Diskussion der Beispiele auch durchaus herausarbeitet.

Die große Errungenschaft der Studie liegt in der erstmaligen integrativen Untersuchung von Zivil- und Strafverfahren, die das Privatleben der "Volksgenoss*innen" betrafen. Dieser Zugang, den Christians nicht nur mit der systematischen Nutzung veröffentlichter Urteile in juristischen Zeitschriften und der Kommentarliteratur, sondern auch über intensive Archivarbeit verfolgt, ermöglicht einen breiteren und durch die Einarbeitung einzelner beispielhafter Fälle zugleich intensiven Einblick in Verfahrensabläufe, Urteilsfindung und Auswirkungen von Rechtsprechung in der nationalsozialistischen Diktatur.

Einer genaueren Betrachtung werden die Felder des Eherechts - hier speziell des Scheidungsrechts -, des Eigentumsrechts und der strafbaren Äußerungen persönlicher Meinungen unterzogen.

Für ersteres arbeitet Christians überzeugend die Dichotomie von scheinbarer Liberalisierung in der Kontinuität zu den Reformbemühungen der Weimarer Republik und der Aufladung dieses Rechtsbereiches durch "dezidiert völkische und rassenhygienische Prämissen" (176) heraus. Kommt das Zerrüttungsprinzip, das 1938 im neuen Eherecht eingeführt wurde, zunächst als größere Scheidungsfreiheit für Männer und auch Frauen daher, so verdeutlicht Christians Bearbeitung von insgesamt 722 Scheidungsakten des Landgerichts München als geschlossenem Bestand unter Hinzuziehung einer Stichprobe der überlieferten Aktenbestände aus Berlin und Hamburg das Gegenteil: In der Urteilsfindung orientierte sich die Richterschaft an "Nützlichkeitserwägungen der Ehe für die nationalsozialistische Leistungs- und Pflichtgemeinschaft", was letztlich häufig zu einer Schlechterstellung der Ehefrauen - rechtlich, wirtschaftlich wie auch im gesellschaftlichen Ansehen - führte. Das im Zuge des Scheidungsverfahrens ausgehandelte Recht auf Unterhalt konnte durch Führung eines "ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandel[s]" (173) nachträglich noch verwirkt werden und eröffnete dem diesen Lebenswandel kontrollierenden und normierenden Regime die Möglichkeit zur soziomoralischen Überwachung.

Für den rechtlichen Umgang mit Privateigentum wählt Christians neben Schuldrecht und Mietrecht zusätzlich das Delikt der Schwarzschlachtungen nach der Kriegswirtschaftsverordnung und das Kriegsschädenrecht beziehungsweise die Forderung auf Schadensersatz nach Kriegszerstörungen als Untersuchungsfelder aus. Diese - insbesondere in der historischen Forschung - bisher eher randständig behandelten Felder eröffnen großes Potential nicht nur für die Beleuchtung der Rechtspraxis in ihren regionalen Ausprägungen (223), sondern auch für die Aufdeckung der Dynamiken zwischen der sogenannten "Volksgemeinschaft" und den Strafverfolgungsbehörden (etwa durch Denunziationen, Anzeigeverhalten sowie geschürten (Un-)Sicherheitsgefühlen). Während das Privateigentum unter nationalsozialistischer Herrschaft an Bedeutung einbüßen musste (ausgenommen des Automobils!), schwand auch der Schuldnerschutz - insbesondere mit Kriegsbeginn - beträchtlich, wurden letztlich auch hier Nützlichkeitserwägungen angesetzt, die individuellen Rechtsschutz an die Bedeutung desselben für die "Volksgemeinschaft" knüpften. Auch hier arbeitet Christians ihre Ergebnisse maßgeblich auf Grundlage von Amts-, Land- und Sondergerichtsakten heraus.

In ihrer dritten Fallstudie betont die Autorin unter anderem die Bedeutung von Denunziationen für die strafrechtliche Aufklärung beziehungsweise die Verfolgung von Personen nach dem sogenannten "Heimtückegesetz" (also wegen verächtlichmachender Äußerungen über das Reich oder seine politischen Vertreter) wie auch auf Grundlage der "Rundfunkverordnung" (das heißt aufgrund des Abhörens von ausländischen Rundfunksendern). Beide Gesetze - die im Vergleich zu den übrigen in der Studie thematisierten Normen genuin nationalsozialistische, das heißt auch von Grund auf ideologisierte Rechtsetzung darstellen - verdeutlichen die Verkleinerung des privaten Raumes sehr eindrücklich. Insbesondere mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wandelte sich das Verständnis von Öffentlichkeit insofern, als dass "Räume für Vertraulichkeiten [kleiner wurden] oder [ganz] verschwanden". (251)

Die von Christians gezielt ausgewählten Fallstudien zeigen drei zentrale Entwicklungen auf, die die nationalsozialistische Straf- und Zivilrechtsprechung genommen hat: erstens wurden größere Handlungsspielräume für die handelnden Akteure im Straf- und Zivilprozess eröffnet; zweitens betont die Autorin die Bedeutung von Denunziationen für Ermittlung und Urteilsfindung und definiert zudem Unterschiede zwischen klassischerweise in ländlichen (=vertrauten) oder urbanen (=anonymen) Gebieten auftretenden Delikten und drittens wird deutlich, dass der Privatraum insgesamt schwindet und selbst vertrauliche und persönliche Gespräche als "Öffentlichkeit" definiert werden konnten. Die Interessen des und der Einzelnen, der Schutz von Privateigentum und die Persönlichkeitsrechte wurden zugunsten einer "größeren staatlichen Lenkungsfreiheit" (285) zurückgedrängt.

Die Studie überzeugt durch die umfangreiche Archivarbeit, die die Argumentation fundiert und leitet, ebenso wie durch die ausgesprochene Kürze und pointierte Darstellung. Das besondere Verdienst der Autorin ist es nicht zuletzt, Zivil- und Strafverfahren nicht als voneinander unabhängige Rechtsfelder anzusehen, was diese Studie von anderen (rechts-)historischen oder mehrheitlich juristischen Studien unterscheidet: in der Zusammenführung dieser beiden großen Rechtsgebiete werden die Befunde umso klarer.

Lena Haase