Rezension über:

Matthias Strohn: The German Army and the Defence of the Reich. Military Doctrine and the Conduct of the Defensive Battle 1918-1939 (= Cambridge Military Histories), Cambridge: Cambridge University Press 2011, XIII + 277 S., ISBN 978-0-521-19199-9, GBP 55,00
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Rezension von:
Heiner Möllers
Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Heiner Möllers: Rezension von: Matthias Strohn: The German Army and the Defence of the Reich. Military Doctrine and the Conduct of the Defensive Battle 1918-1939, Cambridge: Cambridge University Press 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/18143.html


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Matthias Strohn: The German Army and the Defence of the Reich

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Der Autor untersucht in seiner Dissertation das deutsche militärische Führungsdenken der Zwischenkriegszeit und möchte kulturgeschichtlichen Untersuchungen der Militärgeschichte "von unten" ganz bewusst eine Militärgeschichte von oben entgegenstellen, von "dort, wo entschieden wird" (7).

In seinem Fokus stehen Führungskultur und operatives Denken von Reichswehr und Wehrmacht, die durch die militärischen Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages bestimmt wurden und der sich Strohn chronologisch nähert. Das Deutsche Reich konnte eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Nachbarn zur Revision des Versailler Friedens militärisch bis weit in die 1930er Jahre nicht wagen. Dennoch glaubten Historiker, eine schnurgerade Linie von den "Sturmtruppen des Stellungskrieges" über die Reichswehr zu den "Blitzkriegen" des 'Dritten Reiches' ziehen zu können. Diesen schon nicht mehr aktuellen Forschungstrends will Strohn entgegentreten. Am Beispiel des sich neu formierenden Verständnisses von Defensive untersucht er, wie sich die Reichswehrführung auf den Krieg der Zukunft vorbereitete.

Es steht außer Frage, dass die deutschen Militärs im Ersten Weltkrieg innovativ waren, Taktik und operatives Denken den Gegebenheiten und den Folgewirkungen neuer Waffen anpassen konnten, was Strohn eher vernachlässigt. [1] Ebenso sind die Wurzeln der "Auftragstaktik", dem Schlüssel zum deutschen Erfolg in vielen Schlachten und Kriegen, der die Reichswehr viel Gewicht beimisst, hinlänglich untersucht. [2] Für Strohn schien aber unklar zu sein, wie sich die Reichswehr auf den Krieg der Zukunft vorbereiten wollte und er schildert es deswegen umfassend und prägnant: Hans von Seeckt sah in der Reichswehr einen Kader für die künftige Armee (98ff). An ihren Kommandostrukturen kann man dieses ebenso ablesen, wie an den Bemühungen, sich u.a. in der Sowjetunion technisch zu schulen. Ob und wie jedoch jeder Soldat taktisch für die nächsthöhere Führungsebene geschult wurde, bleibt auch bei Strohn unklar (104: Friedrich Fromm merkte dazu an: "der jüngste und dümmste Soldat müsse in der Lage sein, einen Zug zu führen!" Quellen dazu fehlen.). Dass zahlreiche "Kriegsspiele" und "Führerreisen" stattfanden, mit denen das Offizierskorps auf den kommenden Krieg vorbereitet werden sollte, stellt Strohn dar. Die Entwicklung einer Vorschrift für das "Gefecht der verbundenen Waffen", von Strohn gut analysiert (107-129), markierte den Höhepunkt dieser Militärwissenschaften. In ihr fand die Defensive ebenso viel Beachtung wie die Offensive. Wie die Reichwehrführung dieses Gefecht gegen einen überlegenen Gegner führen wollte, wie sie ihre Möglichkeiten beurteilte, bleibt dennoch unklar.

Das für die Ära Seeckt bestimmende Dilemma, zu wenig Soldaten für einen regulären Krieg zu besitzen, skizziert Strohn anhand militärpolitischer Überlegungen, die bereits 1919 einsetzten - Politiker und Militärs zogen an einem Strang. Die Besetzung des Ruhrgebietes 1923 führte Seeckts Planungen vorerst ad absurdum; mit dem Ereignis, das keinen ordinären Krieg darstellte, konnte er nicht umgehen. Für einen Guerilla-Krieg hatte er kein Verständnis (139). Joachim von Stülpnagel gilt daher mit seiner Studie als geistiger Vaters des "Volkskrieges", der jedoch innerhalb der Reichswehr und im Militärwochenblatt deutlicher Kritik unterzogen wurde (151ff). Folgen hatten seine Überlegungen offenbar kaum.

1926 setzten die Planungen der Reichswehr für ein 21-Divisionen-Heer ein, das ab 1934 realisiert wurde. Die Einführung der Wehrpflicht 1935 war dazu unumgänglich, aber eine offensivfähige Armee war nicht das Ergebnis. Auch die 1930 einsetzende Überarbeitung der Vorschrift "Führung und Gefecht", die 1933 in der "Heeresdienstvorschrift 300 - Truppenführung" mündete, war noch von der militärischen Schwäche des Reiches geprägt: die Gefechtsarten Angriff und Verteidigung waren deswegen (?) ausbalanciert und gleichberechtigt (187). Zwischenzeitliche militärische Diskurse, so z.B. durch Wilhelm Ritter von Leeb und sein Buch "Abwehr", waren für Strohn kein Aufgalopp zum "Blitzkrieg": das Reich hatte keine Armee, um einen solchen zu führen. Folgt man dem Autor scheint es so, als wäre die Vorschrift ein Übergangswerk, das erst durch die Vollmotorisierung der Wehrmacht überholt würde - die freilich nie erreicht wurde! Vor diesem Hintergrund waren auch die Kriegsspiele und Planungen für den "General War" gegen die Tschechoslowakei bzw. einen "Pre-emptive-strike", zu dem das Reich bis 1938/39 nicht fähig sein sollte, zu verstehen. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, glaubte in einem solchen Szenario, Deutschland sei fähig West- und Ostnachbarn erst Hiebe auszuteilen, um anschließend den Todesstoß verpasst zu bekommen (210).

Selbst wenn das Buch nicht in allen Bereichen Neues aufzeigt, bietet es eine gut komprimierte Darstellung militärischen Denkens der Reichswehr. Wesentliche Entwicklungen wie auch die Haltung zu "Querdenkern" hat Strohn gut resümiert und den Forschungsstand knapp gebündelt. Das gut lesbare, knappe Buch verdichtet die ansonsten aufwändige Lektüre anderer Grundlagenwerken der 1970er Jahre. Es hätte jedoch gewonnen, wenn die militärischen Planungen der Reichswehr mit anderen Studien zur Kriegsvorbereitung z.B. im Rahmen der "zivil-militärischen Zusammenarbeit" in Preußen [4] gespiegelt worden wären. Noch wichtiger wäre es gewesen, die Verzahnung von militärischen Planungen und sicherheitspolitischem Handeln der Reichsregierung darzustellen, um den Stellenwert der von Strohn herausgestellten Defensive zu erfassen (war das nur eine Tugend aus der Not, oder hatte es Hintergründe?). Da eine Fragestellung fehlt, hat der Autor auf eine Zusammenfassung verzichtet. Sein Schlusswort führt inhaltlich fort, dass die Wehrmacht auch 1936/37 noch von der Defensive geprägt und zu offensiven Aktionen weniger geeignet war.


Anmerkungen:

[1] Dazu jüngst: Christian Stachelbeck: Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg. Die 11. Bayerische Infanteriedivision 1915-1918 (= Zeitalter der Weltkriege, 5)., Paderborn u.a. 2010.

[2] So z.B. Stefan Leistenschneider, Auftragstaktik im preußisch-deutschen Heer 1871 bis 1914, Hamburg 2002.

[3] Francis Carsten: Reichswehr und Politik, Köln 1964 (englische Aufgabe: Oxford 1966).

[4] Jun Nakata: Der Grenz- und Landesschutz in der Weimarer Republik 1918-1933. Die geheime Rüstung und die deutsche Gesellschaft (= Einzelschriften zur Militärgeschichte, 41), Freiburg 2002.

Heiner Möllers