Gerhard P. Groß: Mythos und Wirklichkeit. Die Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä. bis Heusinger (= Zeitalter der Weltkriege; Bd. 9), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, VIII + 361 S., zahlr. Karten, ISBN 978-3-506-77554-2, EUR 39,90
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"Operationsgeschichte haftet immer noch das Odium des ewig Gestrigen an." (2) Zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft. Welche Erkenntnismöglichkeiten damit ausgeblendet werden, hat kürzlich der amerikanische Militärhistoriker Citino vorgeführt. [1] Dieses Werk hat Groß nicht einbezogen. Das ist bedauerlich, denn Citino lässt die Fixierung auf den Bewegungskrieg, Zentrum des operativen Denkens im preußisch-deutschen Militär, zwei Jahrhunderte früher einsetzen als Groß und deshalb sieht er es auch nicht so eng mit dem Weltmachtstreben des deutschen Nationalstaates verbunden. Zudem sucht er das operative Konzept noch stärker als Groß im militärischen Handeln auf und weniger im Denken des Generalstabs. Groß' zeitliche Konzentration vom Deutschen Reich bis in die Bundesrepublik mit Schwerpunkt auf die Ära der Weltkriege hat den Vorzug, dass die politisch-sozialen Grundlagen des Kriegsbildes im deutschen Militär und dessen Bedeutung für die Kriegsführung präziser analysiert werden können und auch die Kontinuitätslinien klarer hervortreten. Das Ergebnis ist eine scharfe Kritik am Kriegskonzept der militärischen Führung in Deutschland. Von einer überzeitlich gültigen 'deutschen Führungskunst', von der in der angloamerikanischen Forschung vielfach die Rede ist, bleibt nichts übrig. Groß nimmt den Erfolgen deutscher Kriegführung den verklärenden Glanz, indem er eindringlich herausarbeitet, mit welchen strukturellen Schwächen und Defiziten des operativen Denkens sie seit dem späteren 19. Jahrhundert verbunden waren. Vor allem enthüllt er die Gründe für die Unfähigkeit der militärischen Führung, aus ihrem Debakel im Ersten Weltkrieg zu lernen, und die Folgen, die daraus hervorgingen. Diese Art von Militärgeschichte hat allen etwas zu sagen, die sich mit europäischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzen.
Ende des 19. Jahrhunderts erhielt das operative Denken im deutschen Militär seine Form, die bis 1945 im Grundmuster nicht verändert wurde. Es zielte darauf, Zwei- oder Mehrfrontenkriege siegreich führen zu können, obwohl die Gegner über größere Ressourcen verfügen. In wenigen schnellen Schlachten sollten die gegnerischen Streitkräfte "vernichtet", d.h. zur Aufgabe gezwungen werden. Den strategischen Nachteil der geographischen Mittellage durch operative Überlegenheit auszugleichen, verlange den kurzen Krieg. Er verringere zudem die Gefahr, in einen Volkskrieg überzugehen, dessen politische Folgen die konservative militärische Elite überwiegend fürchtete. Den Zeitdruck nennt Groß deshalb das Damoklesschwert über dem operativen Konzept der deutschen Militärführung. Es war zugeschnitten auf den grenznahen Krieg mit der schnellen Entscheidungsschlacht. Eine Folge war die strukturelle Vernachlässigung der Logistik. Überzeugend legt Groß dar, wie dies im Zweiten Weltkrieg in Russland dazu führte, dass aus der traditionellen Versorgung der Truppe aus dem Land eine "Hungerstrategie gegenüber der sowjetischen Bevölkerung" (267) hervorging. Es gehört zu den Vorzügen dieses Werkes, dass Groß (anders als Citino) in konkreten Analysen zeigt, wie die Fixierung auf das operative Konzept dazu führte, dessen strukturelle Mängel "durch eine verbrecherische Operations- und Kriegführung zu kompensieren" (270). So habe "militärischer Utilitarismus in Verbindung mit wirtschaftlichen und ideologischen Faktoren" zur "Triebfeder für eine verbrecherische Operationsführung" werden können (270).
Zu den im Politik- und Gesellschaftsbild der militärischen Führung angelegten strukturellen Defiziten im operativen Denken gehörte die Unfähigkeit, einen vom "Primat der Politik bestimmten Strategiebegriff" zu entwickeln, der befähigt hätte, vom Axiom einer "militärisch gestützten Großmachtpolitik" abzurücken (149). Ressourcenunterlegenheit sollte durch operative Überlegenheit unter Führung des genialen Feldherrn und durch Willensstärke der Soldaten wettgemacht werden. Darauf fixiert lernte die Militärelite aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zwar taktisch - Wiedergewinnung der Bewegung durch den Panzer -, nicht aber operativ und strategisch. So mangelhaft vorbereitet trat die deutsche militärische Führung in den Zweiten Weltkrieg. Die schnellen Anfangserfolge verschleierten das. Diese "Blitzkriege" standen in der "Kontinuität des deutschen operativen Denkens" (201). Doch "das bis heute in vielen Köpfen festsitzende Bild der 'vollmotorisierten deutschen Blitzkriegsarmee' ist das Ergebnis einer NS-Propagandalüge. In der Realität war das deutsche Heer eine Pferdearmee" (209). Operative Planung und Ausrüstung stimmten nicht überein.
Nach dem Krieg verdrängte die Wehrmachtselite ihr Versagen und "schob die Schuld für alle operativen und strategischen Fehlentscheidungen auf den toten Diktator." (263) Dem Autor gelingt hier eine plausible Analyse, wie die Ursachen auf beiden Seiten verteilt waren. Für die militärische Elite konstatiert er eine "Realitätsflucht der OHL" im Ersten Weltkrieg und einen "Realitätsverlust der Wehrmachtsführung" im Zweiten (274).
Abschließend skizziert Groß an Heusinger, wie die Grundzüge des operativen Denkens auch nach 1945 überdauerten und der neuen geopolitischen Situation angepasst wurden. Erst die Einbindung in die NATO habe hier eine Zäsur bedeutet, da nun die operative Führung an das Bündnis und letztlich an den "Hegemon der Allianz" überging (310). Dies bedarf ebenso einer genaueren Untersuchung wie die Frage, was an dem operativen Denken spezifisch deutsch war, denn viele Elemente finden sich auch im Militär anderer Staaten. Hier legt Groß keine Antworten vor, sondern umreißt ein Forschungsprogramm, das noch aussteht.
Anmerkung:
[1] The German Way of War. From the Thirty Years' War to the Third Reich. Lawrence 2005; vgl. meine Rezension in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2012/07/20992.html
Dieter Langewiesche