Rezension über:

Ingo Gildenhard / Martin Revermann (eds.): Beyond the Fifth Century. Interactions with Greek Tragedy from the Fourth Century BCE to the Middle Ages, Berlin: de Gruyter 2010, 441 S., ISBN 978-3-11-022377-4, EUR 99,95
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Rezension von:
Daniela Summa
Inscriptiones Graecae, Berlin-Brandeburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Daniela Summa: Rezension von: Ingo Gildenhard / Martin Revermann (eds.): Beyond the Fifth Century. Interactions with Greek Tragedy from the Fourth Century BCE to the Middle Ages, Berlin: de Gruyter 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/18941.html


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Ingo Gildenhard / Martin Revermann (eds.): Beyond the Fifth Century

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In dem von Ingo Gildenhard und Martin Revermann herausgegebenen Sammelband Beyond the Fifth Century. Interactions with Greek Tragedy from the Fourth Century BCE to the Middle Ages sind die Ergebnisse einer Londoner Tagung zur Rezeption der antiken Tragödie bis zum Mittelalter publiziert. Nach einer ausführlichen Einleitung folgen 13 Beiträge, die hier leider nicht alle im Detail besprochen werden können; die Beiträge sind chronologisch in vier Abschnitte gegliedert: Erstens, Getting the Show on the Road, wo die Rezeption der Tragödie im 4. Jahrhundert und im Hellenismus behandelt wird; zweitens, From Greece to Rome, wo das republikanische Rom bis zur augusteischen Zeit untersucht wird; drittens, The Roman Empire; viertens, Late Antiquity and the Middle Ages. Jedem der 13 Beiträge ist eine Bibliographie beigegeben, die durch Literatur zur Einleitung erweitert wird [1]; ein allgemeiner Index beschließt das Werk.

In der Einleitung (1-35) stellen die Herausgeber des Sammelbandes die Hauptthemen vor und erklären die innovativen Ziele des Bandes: Die meisten Forschungen zur Rezeption der griechischen Tragödie springen von Rom in die Renaissance und legen einen besonderen Schwerpunkt auf das 19. und 20. Jahrhundert. Aus diesem Grund ist die Rezeption der antiken Tragödie in der Spätantike und im Mittelalter weitgehend unbekannt; dies zu beheben ist eines der zentralen Ziele des vorliegenden Bandes: "the chronology of our volume, spanning as it does the period from the fourth century BCE to the Middle Ages, joins others in the attempt to start filling precisely this enormous gap (3)". Außerdem wird in diesem Band auch die nicht-performative Rezeption der Tragödie in der Vasenmalerei und in Inschriften untersucht, da diese Quellen von großer Bedeutung hinsichtlich der Modi der Rezeption und des Umgangs mit der Tragödie darstellen würden. Weiterhin wird ein komparatives Studium der christlichen und mittelalterlichen Traditionen geführt.

Der erste Abschnitt des Bandes befasst sich mit der Rezeption der 'klassischen' Tragödie durch zeitgenössische und nach-klassische Rezipienten. Besonders hervorzuheben ist hier der Beitrag von Martin Revermann (Situating the Gaze of the Recipient(s): Theatre-Related Vase Paintings and their Contexts of Reception, 69-97), der in der umstrittenen Frage des Theatervasenkontextes die sehr sinnvolle Idee des 'multi-context' diskutiert, d.h., die sehr plausible Möglichkeit erörtert, dass solche meist süditalischen Vasen, die aus dem späten 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. stammen, mehrmals und für unterschiedliche Anlässe (in erster Linie für Symposia, dann auch für Dekorationszwecke und Grabgebrauch) verwendet worden seien. Trifft dieses Model zu, so ist der Grabkontext vielfach nur als letzter Verwendungskontext anzusehen - eine Annahme, die durch die Tatsache gestützt wird, dass die Themen vielfach nicht zu einem Grabkontext passen. P. Ceccarelli (Changing Contexts: Tragedy in the Civic and Cultural Life of Hellenistic City-States, 99-150) befasst sich an Hand der epigraphischen Zeugnisse mit der Rolle der tragischen Gattung im politischen und kulturellen Leben hellenistischer Poleis. Es ist bekannt, dass in Athen die Verkündung von Ehrungen meist an den Dionysien bei den tragischen Agonen stattfand. Ceccarelli untersucht nun die epigraphischen Zeugnisse aus anderen Poleis und gelangt dabei zu folgendem Ergebnis: Während die Aufführung von Tragödien im hellenistischen Athen einen starken politischen Kontext besaß, sah dies - mit Ausnahme des 'athenischen' Delos und des zeitweise von Athen geprägten Samos - in vielen Poleis anders aus, da in ihnen gymnische und musische Agone der bevorzugte Ort für die Verkündung von Ehrungen waren.

Im zweiten Abschnitt wird die Rezeption der griechischen Tragödie in der weitestgehend verlorenen Tragödie republikanischer Zeit von I. Gildengard (Buskins & SPQR: Roman Receptions of Greek Tragedy, 153-185) behandelt. Der Autor sieht die römische Tragödie und ihre Rezeption durch römische Schriftsteller bis zu Cicero (ausgeschlossen) ähnlich wie die griechische Tragödie der hellenistischen Zeit: es handele sich um dramatische Unterhaltung mit Mythologie, die im Gegensatz zu den fabulae praetextae keine oder allenfalls eine geringe politische Botschaft vermittelt habe. A. Keith (Dionysiac Theme and Dramatic Allusion in Ovid's Metamorphoses 4, 187-217) behandelt das Thema der Episode der Minyaden in Ovids Thebais, in der er das thebanische Epos verarbeitet; in einer Art von Anti-Aeneis bevorzugt Ovid das tragische Repertoire, insbesondere die Phoenissae des Euripides. Es ergebe sich ein Dialog zwischen Epos und Tragödie, in dem die Autorin mögliche Einflüsse auch von Aischylos', Accius' und Ennius' Tragödien erkennt.

Im dritten Abschnitt erforscht A. Zanobi (Seneca and Pantomine, 269-288) in Senecas Tragödien die Präsenz der Pantomime, deren Einfluss etliche sonst rätselhafte Szenen, Monologe oder Monodien gut erklären könne, die vom Kontext gelöst und unabhängig zu sein scheinen und sich auf die Mimik der Emotionen stützten. T. Schmitz (A Sophist's Drama: Lucian and Classical Tragedy, 289-311) untersucht die Rezeption der griechischen Tragödie in Lukians Werk, der von der Autorität und den theatralischen Aspekten der Tragödie fasziniert war; bei einer Analyse der Passagen, die das Adjektiv tragikos enthalten, stellt der Autor fest, dass Lukian, wie schon Platon, tragikos mit der metaphorischen Bedeutung 'pompous and affected style' oder ' mythical, monstrous' verwendet.

Im letzten Abschnitt untersucht T. Barnes (Christians and the Theater, 315-334, Nachdruck) das Theater der christlichen Zeit, in der die Theaterbauten - trotz der christlichen Verurteilung des Theaterwesens als obszön ab der Severerzeit - noch überall weitergebaut (z.B. von Justinian), benutzt und besucht wurden. Seit dem 4. Jahrhundert n.Chr. verschärften sich die Verurteilungen des Theaterwesens interessanterweise auch von Nicht-Christen wie Libanios oder Johannes Chrysostomos, während Chorikios von Gaza - möglicherweise Christ - die Mimen offensichtlich verteidigte. D. Pietropaolo (Whipping Jesus Devoutly: The Dramaturgy of Catharsis and the Christian Idea of Tragic Form, 397-424) betont die Rolle von Dante als Beleg dafür, dass die Klassiker - besonders Vergil und Ovid - die mittelalterliche Kultur und Tradition stark beeinflussten. In Dantes Werk ist nämlich eine Kontinuität - und nicht ein Bruch - zwischen paganer und christlicher Kultur erkennbar, die die Tendenz zeigt, die erste zu absorbieren und zu christianisieren. Es folgt eine Untersuchung der christlichen Aufführungen (Messe als Inszenierung der Passio; Jesus in den Evangelien von Marcus und Matthäus als tragischer Held; die devozioni des 14. Jahrhunderts), in denen substanzielle Unterschiede zur antiken Tragödie zu erkennen sind - so etwa die Darstellung der zweideutigen Passio als Leiden und Geniessen, gaudeo in passionibus (410), oder die Abstraktions- und Meditationserfahrung.

Der Verdienst des vorliegenden Sammelbands besteht zweifellos darin, die Aufmerksamkeit auf die spätantike und mittelalterliche Rezeption der griechischen Tragödie gelenkt zu haben. Wie die Herausgeber in der Einleitung schreiben, ist es nicht ihr Ziel, besagtes 'gap' ganz zu füllen, sondern "to offer a range of specific case studies which trace some of the "reverberations" of Greek tragedy from the fourth century BCE to the Middle Ages". Obschon das 'gap' zu gross ist, um es zu füllen, wäre es wünschenswert gewesen, wenn es anstelle von je zwei Beiträgen zu Ovid und Seneca noch Studien zu weiteren durch die griechische Tragödie beeinflussten Autoren gegeben hätte - wie z.B. Lucan oder Statius; dies gilt umso mehr, da die Herausgeber sich wünschen, dass der Band als 'Companion' benutzt werden möge (5). Insgesamt aber ist der Sammelband eine gute Einleitung in die Rezeption der griechischen Tragödie vor der Neuzeit, die eine Reihe von anregenden und innovativen Studien enthält.


Anmerkung:

[1] Seit kurzem ist B. Le Guen : "Les Fêtes du théâtre grec à l'époque hellénistique", REG 123, 2010, 495-520 erschienen. Da die Literatur zu dem weiten gewählten Zeitabschnitt zu umfangreich ist, kann nur exemplarisch verwiesen werden auf R. Scodel (ed.): Theater and Society in the Classical World, Ann Arbor 1993 - hier insb. der Beitrag von C.P. Jones: Greek Drama in the Roman Empire, 39-52; A.G. Karanasiou: Die Rezeption der lyrischen Partien der attischen Tragödie in der griechischen Literatur, Stuttgart 2002; F. Bessone: Un mito da dimenticare. Tragedia e memoria epica nella Tebaide, Materiali e Discussioni 56, 2006, 93-127.

Daniela Summa