Rezension über:

Michael Silk / Ingo Gildenhard / Rosemary Barrow: The Classical Tradition. Art, Literature, Thought, Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell 2014, XIV + 520 S., ISBN 978-1-4051-5549-6, GBP 90,00
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Rezension von:
Justus Cobet
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Justus Cobet: Rezension von: Michael Silk / Ingo Gildenhard / Rosemary Barrow: The Classical Tradition. Art, Literature, Thought, Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/24737.html


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Michael Silk / Ingo Gildenhard / Rosemary Barrow: The Classical Tradition

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Als einen Kernbestand westlicher Kultur interpretieren die Autoren - der emeritierte Gräzist und Komparatist Silk, der Latinist Gildenhard und die Kunsthistorikerin und Klassische Archäologin Barrow, beide eine Generation jünger - die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des griechisch-römischen Altertums seit der Spätantike in einem Werk von beeindruckender Kraft und Gelehrsamkeit. Sein Anspruch ist Gilbert Highets "Classical Tradition. Greek and Roman Influences on Western Literature" von 1949 oder auch Ernst Robert Curtius' opus magnum "Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" von 1948 vergleichbar. Die Autoren konzipierten ihren Gegenstand nicht als Handbuch, [1] sondern als ein sich durchziehendes Argument, das die Wertschätzung der Klassischen Antike in ihrer Rezeption im Auge hat. Ohne aufzutrumpfen, formulieren sie doch: "our ultimate concern, however, is [...] the grand sweep or the big picture" (X). Sie argumentieren dicht aus den Texten von Petrarca, Shakespeare, Hannah Arendt, interpretieren die Rezeption der knidischen Aphrodite in der Malerei oder rekonstruieren im Zusammenhang mit dem Bau von Kuppeln technologische Innovationen. An anderer Stelle skizzieren sie in wenigen Strichen die wechselnden Konjunkturen antiker Fachbücher in Mittelalter und Früher Neuzeit oder berichten detaillierter von den Praxen des Übersetzens. Ihre Bibliographie umfasst 43 Seiten Forschungsliteratur.

Als zu eng, zu historisierend-relativierend lehnen die Autoren für ihr Unternehmen den Begriff der Rezeptionsgeschichte ab und betonen den großen Zusammenhang der Wirkungsgeschichte in einem Kontinuum der Tradition aus der Antike unbenommen der kategorialen Unterschiedlichkeit ihrer Realisationen, die gerade als solche Gegenstand ihres Buches sind (3-9; 393); Gegenstand heißt in ihrem Fall die italienische, französische, englischsprachige und deutsche Tradition. Etwas befremdet finden sie für 'classical tradition'/'tradizione classica'/'tradition classique' im Deutschen als nächste Entsprechungen 'Antikerezeption' und 'Nachleben' (12); 'Rezeptionsgeschichte' war allerdings als Wechsel der Perspektive auf die rezipierenden Subjekte und Diskurse hierzulande seit einer Generation in den Vordergrund getreten. Ihr umfassendes Programm gliedern die Autoren in fünf Teile, die sie in 35 Paragraphen organisieren; dies und ein exzellenter Index von 42 Seiten erleichtern den Zugang zu der engen gedanklichen Vernetzung der Befunde.

Die Hälfte des Textes (§§ 1-18) erschließt als Teil I 'Überblick' den Gegenstand systematisch (§ 1: 'Scope of the book'; § 2: 'Mapping the field', d.h. "the overall shape of the tradition"). § 3, 'eras', thematisiert auf dem Hintergrund der antiken selektiven Kanonisierungen durch Alexandria, römische Rezeptionen und die Bibliothek des Cassiodor die Tradition vor allem als Textcorpus. Den großen Rhythmus, so die Autoren, verlieh der 'westlichen Kulturgeschichte' die Antikerezeption der Renaissance; im zeitlichen Anschluss daran verfolgen sie die wechselnden Konjunkturen der Wertschätzung in den verschiedenen nationalen Kulturen bis zum heutigen Tag. Die systematischen Zugriffe der §§ 4 ff. wiederholen unterschiedlich differenziert den Gang durch Zeiten und Räume, zuerst grundlegend § 4, 'education', wo sie dem Lehren und Lernen von Latein, dann auch Griechisch und Hebräisch, in wechselnden Institutionen und Verwendungszusammenhängen vom Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert nachgehen. Die §§ 5-10 fragen nach Formen und Feldern, in denen die antike Überlieferung als Autorität zur Geltung kam: § 6 'masters of knowledge' z.B. in Medizin oder Philosophie, §7 stilistische Vorbilder wie Vergil oder Cicero, § 8 Leuchttürme der Moral wie Ciceros De amicitia oder die Fürstenspiegel, § 9 'guides to erotic experience'. Die §§ 11-13 sprechen von Agenten der Vermittlung antiker Tradition, das sind § 11 Architektur und bildende Kunst, § 12 Elemente der Kultur von Nicht-Eliten wie im Karneval oder im Film und der modernen universalen Design-Sprache "that transcended barriers of education and class" (135). § 13, 'languages and language', verfolgt die Entwicklung des nachantiken Latein zu den Volks- und Nationalsprachen und der Sprache von Literatur und Wissenschaften. Die §§ 14-17 gelten Formen des Umgangs mit der klassischen Tradition im Übersetzen (§ 15), in den Wissenschaften vom Altertum seit dem späten 18. Jahrhundert, besonders der Philologie (§16), im Umgang mit den sichtbaren Zeugnissen, den Ruinen, dem Sammeln und dem Aufbau von Museen (§ 17). Diese trockene Zusammenfassung der von den drei Autoren ausgebreiteten Wissensbestände lässt kaum ahnen, welche Fülle von Beobachtungen und Befunden sie zusammentragen: "Ich bin ein Berliner" (Kennedy 1963) spielt mit civis Romanus sum (170: § 14); [2] aus den 'tableaux vivants' klassischer Motive wurden 'poses plastiques' um die Wende zum 20. Jahrhundert, "at the onset of the 'physical culture' movement of body-building" (130 f: § 12); 1966 noch formulierte - ohne es zu wissen, eine Epoche markierend - der scheidende Direktor des Tübinger Uhland-Gymnasiums, Erich Haag (334: § 27): "Wer Platon nicht im Urtext lesen kann, dem fehlt etwas zum vollen Menschentum". [3]

Die zweite Hälfte des Buches bietet in vier weiteren Teilen, den §§ 19-35, exemplarisch Fallstudien von im Einzelnen unterschiedlichem Gewicht. Teil II untersucht universale "Archetypen" aus der Antike in ihren kulturell spezifischen Realisierungen, § 20 die Bauform der Kuppel vom Pantheon bis zur shopping mall, § 21 das Konzept des Heros von Homer bis Che Guevara, § 22 die Kulturform der Literatur und ihre Gattungen in der neuzeitlichen Rezeption antiker Theorie. Teil IV, "Making a difference", fragt nach prägenden Texten und kreativen Figuren, "important rereadings of ancient culture" (343); §29 interpretiert als 'originators' Petrarca und Winckelmann, § 30 als 'points of departure' die Rezeptionen von Vitruv und Longinus; § 31 unter 'ideas and action' Macchiavelli und Richard Wagner, beide überzeugt, in der Spannung von vita activa und vita contemplativa von der Antike lernen zu können. Teil V, "Contrasts and comparisons", vergleicht in detaillierter Werkinterpretation als "responses to antiquity" § 33 Gemälde von Titian, David und de Chirico, § 34 das politische Denken der öffentlichen Intellektuellen Karl Popper, Leo Strauss und Hannah Arendt, §35 Dichtung von John Milton, Alfred Tennyson und T.S. Eliot. Teil III, 'the imaginary', handelt von vorgestellten Wirklichkeiten, die antiker Tradition geschuldet sind. § 24 vermutet als Grund für die nicht endende Wirkungsgeschichte antiker Mythen ihre Variabilität und die produktive Spannung zwischen Metaphysischem und Empirischem, "a rival theology" (304). § 25 führt Rom vor Augen als "the city of memories" Schicht auf Schicht, translatio, resurrectio, restauratio: die Unsterblichkeit der Referenzen. § 26 'forms of government': In keinem anderen "cultural imaginary of Western thinking" spiele die antike Erfahrung und deren Theoretisierung eine direktere Rolle "in shaping history"; die Autoren rekapitulieren die Legitimierung von Monarchie, Widerstandsrecht, Mischverfassung, die Gegenüberstellung von Demokratie und Republik.

Teil III schließt §27 mit der großen Frage nach "der Ordnung der Dinge"; gemeint ist die Stellung des Menschen in der Welt - dignitas hominis, conditio humana, hierarchisierende Polarisierungen wie Kultur versus Barbaren. Die Rede ist von den verschiedenen Humanismen als 'Bildung' des Menschen und den Diskursen um Stratifikation, von der Nähe zu anderen großen Ideen wie Individualität, Säkularismus, Rationalismus, vom Körper der griechischen Kunst. Die Autoren vermeiden normative Aussagen, halten erstaunlich konsequent eine historisch rekonstruierende Perspektive ein. Allerdings sagen sie uns implizit, auch deutlicher am Ende mancher Paragraphen: Die klassische Tradition ist nicht klein zu kriegen. Am Ende von § 27 sprechen sie von den Relativisten und Skeptikern jeglichen Universalismusses und den modernen Herausforderungen des Humanismus angesichts von Genmanipulationen, der Suche nach Außerirdischen, der Erwartung der ökologischen Katastrophe (es hätte ihnen anderes einfallen können) - eine ungewisse Zukunft. Sie zitieren die Frage, die uns Primo Levi 1947 zum Zivilisationsbruch mitten im 20. Jahrhundert stellte: "Ist das ein Mensch?" In ihrem Epilog (428-431) rufen sie seinen Text noch einmal auf mit einem Zitat von Ulysses in Dantes Hölle: "Bedenket, welchem Samen ihr entsprossen: / Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere, / Nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten" - und weiter Levi: "Einen Augenblick lang vergesse ich, wer ich bin und wo ich mich befinde". [4] Die Autoren: "The classical is contested. And yet, for Levi, the words affirm human value and its survival." (430).

Von dem christlichen Millenium 300-1300 (65) unterscheiden sie "the classicizing age" (33) seit Petrarca und Beatus Rhenanus, 1300-1800. Merkmal ist "the demand for 'acquaintance with the humanities'" (33); der Vorteil dieser Periodisierung ist es, den traditionellen Epochenschnitt Renaissance aufzulösen in einen langfristigen, komplexen Prozess der Antikerezeption im Wechsel historischer und intellektueller Kontexte. "Turning point" (7) ist "the Romantic divide" (24-28; 248 u.ö.) mit dem späten 18. Jahrhundert als "time of transition" (160-162). "Here truly begins the age of modern 'theoretical man', as Nietzsche called it [...], here begins the modern knowledge industry" (206 f.). Es folgen die 200 Jahre vom Neoklassizismus bis zum Auslaufen des Dritten Humanismus in Deutschland in den 1960er Jahren (38; 211; 334). Als ein Merkmal der Epoche benennen sie die Ausbildung und Ausdifferenzierung der Altertumswissenschaft aus der Philologie im Kontext des Historismus (§ 16: 207); Wissenschaft von dem und Bedeutung des Gegenstandes der klassischen Tradition treten auseinander (§ 16: 217-221). Doch erst seit den 1960er Jahren vollzieht sich die Ablösung normativer Geltungsansprüche der klassischen Tradition von ihren zunehmend in spezialisierten Disziplinen auseinandertretenden Sachwaltern unwiderruflich. Interessant ist dabei, wie deutlich die Autoren zwischen der auf Originalsprachlichkeit fixierten kontinentalen, besonders der deutschen Tradition und der angelsächsischen der "classics in translation" unterscheiden (3 f; 38; § 15); gerade an diese binden sie ihren Optimismus über die Zukunft der klassischen Tradition. [5]

Im letzten Abschnitt des ersten Teils, § 18, sprechen die Autoren davon, was ("traditionell": 3 Anm. 1) nicht zu ihrem Thema gehöre, wohl aber Teil von "western experience" sei: "Classical tradition - and the rest" (241). Abgesehen von den ethnologischen Fluchten in die globalisierte Welt der Neuzeit (244 f.) - die Hybridisierungen der modernen Einwanderungsgesellschaften ließen sich hinzufügen -, nennen sie die Naturwissenschaften mit ihrer Ablösung von den antiken Autoritäten seit dem 18. Jahrhundert und auffälliger, was sie "Judaeo-Christianity" nennen. Allerdings markieren sie - ohne Folgen für ihr Konzept - gerade im Humanismus-Paragraphen 27 (332) den Hellenismus als den Moment in der Geschichte, seit dem die verschiedenen kulturellen Sphären "of the ancient Mediterranean [...] have had a profound impact on what 'being human' has meant ever since". [6] Etwas anderes sind die Gewichtungen innerhalb der Wissenskultur in klassischer Tradition, die sich der besonderen Expertise der Autoren verdanken. Zwar versprechen sie für § 3, Epochen, "the place and status of classical antiquity within alternative historical frames" (13), doch ist ihr Thema nicht die Ordnung der Zeiten in der Rezeption antiker Überlieferung, [7] und ausführlich sprechen sie § 16 zwar von der Philologie, auch der Archäologie, sehr kurz aber nur von der Alten Geschichte (207). Das hat wohl auch damit zu tun, dass sie nicht sehen, wie Historiographie und ihre Interpreten nicht Gewesenem, sondern dessen gedanklicher Verarbeitung nachgehen (208); sie reproduzieren damit Werner Jaegers Unterscheidung von Geist und Materie in Gestalt von "Philologie und Historie". [8] Gleichzeitig bezeugt das Buch die größere Nähe der angelsächsischen "Classics" zur Wirkungsmacht antiker Überlieferung auch jenseits von Academia. Es bietet durch Fülle und Differenzierung Anschlussfähigkeit in viele Richtungen auch jenseits seines weiten Horizontes: zum Alten Orient, dem Christentum, auch Byzanz und dem Islam, den anderen Vermittlern antiker Tradition. Den inzwischen grassierenden Studien zur Rezeptionsgeschichte bietet es einen im Einzelnen wie im Ganzen aufschlussreichen Rahmen.


Anmerkungen:

[1] Selbst grenzen sie sich ab von Anthony Grafton / Glenn W. Most / Salvatore Settis, The Classical Tradition (2010) und den Bänden 13-15/3 des Neuen Pauly zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte (1999-2003).

[2] Cicero, Gegen Verres 2,5,162; Apostelgeschichte 22,25-29; Lord Palmerstone 1850 im britischen Parlament.

[3] In demselben Jahr erhielt Haag, in den 1950er Jahren Vorsitzender des Altphilologenverbandes, das Bundesverdienstkreuz; 1960 veröffentlichte er mit Eduard Spranger: "Der Sinn des altsprachlichen Gymnasiums in der Gegenwart".

[4] Übersetzung Heinz Riedt in der deutschen Erstausgabe, Frankfurt am Main/Hamburg 1961, 119.

[5] Pessimistisch formulieren in drastischen Worten Raimund Schulz und Uwe Walter im aktuellen Literaturbericht Altertum (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67, 2016, 94-120, hier 119) den Bruch der "intellektuellen Nahrungskette" zwischen den "international agierenden und vernetzten Forscher[n]" und der Basis im Bildungssystem. Die Berichterstatter hätten auch von der zunehmenden Entkoppelung institutionell wie in unseren Köpfen von Lehramtsstudium und wissenschaftlichem Studium sprechen können. Zu der langen Linie dieser Entwicklung Manuel Baumbach, Lehrer oder Gelehrter? Der Schulmann in der deutschen Altertumswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Glenn W. Most (Hg.): Disciplining Classics - Altertumswissenschaft als Beruf, Göttingen 2002, 115-141.

[6] Heinrich August Winkler beginnt seine große Geschichte des Westens (4 Bände, München 2009-2015) auf vier Seiten mit Jan Assmanns Monotheismus, den die Juden dem ägyptischen König Echnaton verdankten; nach einer knappen Seite zur griechischen Antike folgen neun Seiten zum antiken Christentum und der Spätantike.

[7] Justus Cobet: Das europäische Narrativ, in: Nicolas Berg u.a. (Hgg.): Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis, Göttingen 2011, 191-211.

[8] Werner Jaegers Basler Antrittsvorlesung 1914 in: Ders.: Humanistische Reden und Vorträge, Berlin / Leipzig 1937, 1-17. Vgl. Hellmut Flashar: Werner Jaeger und das Problem der Bildung, in: Gymnasium 122 (2015), 419-433.

Justus Cobet