Emanuela Bianchi / Sara Brill / Brooke Holmes (eds.): Antiquities Beyond Humanism (= Classics in Theory), Oxford: Oxford University Press 2019, IX + 310 S., ISBN 978-0-19-880567-0, GBP 70,00
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Unter dem Rubrum eines post- oder auch non-human turn plädiert der anzuzeigende Band für eine neue Ausrichtung der Antikenstudien jenseits von mit Humanismus, Klassizismus und Erbesprech bezeichneten traditionellen Bahnen. Die programmatische Einleitung der Herausgeberinnen lenkt die Aufmerksamkeit darauf, "how changes in technology, global economy, and ecological conditions have transformed the very definition of the human as a species" (10). Ohne Umschweifen nehmen sie Distanz zur Idealisierung vor allem der Griechen vom Renaissance- bis zum Dritten Humanismus. Eine besondere Rolle spielten dabei die Fixierung auf die von Platon und Aristoteles begründete philosophische Tradition der Metaphysik und ein auf den logos ausgerichteter Anthropozentrismus; damit gehe einher die als somatophobia terminologisierte [1] Leibfeindlichkeit, "all too frequently taken to be isomorphic with 'ancient Greek thought'" (2).
Das Anthropozän - Begriff für die mit der Industrialisierung dramatisierten Eingriffe der Menschen in die Natur - markiere einen epochalen Bruch mit der Vergangenheit; hinzu komme "a seismic shift", neben dem Klimawandel geschuldet dem neoliberalen globalen Kapitalismus, den Dynamiken der Dekolonialisierung "and new configurations of gender" (14). All das gebiete eine radikale Abkehr von der eurozentrischen 'westlichen Tradition', verantwortlich für Sklaverei, Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus, die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Der non-human turn lade dazu ein, die klassischen Studien als Ort "of philological gesture and received wisdom" (2) hinter sich zu lassen und antike Texte neu zu lesen als aktiven Beitrag zu gegenwärtigen Diskussionen (12).
Als Gewährsleute für einen verfremdenden Blick auf die fernen Griechen nennen die Herausgeberinnen Namen von Nietzsche bis Vernant. Sie nehmen Bezug auf Philosophen wie Foucault und Derrida und reihen sich ein in 'cultural studies' und 'New Historicism' seit den 1980ern. Gegen Metaphysik und Essentialismus wollen sie "taxonomic boundaries" öffnen (7), und sie sprechen von "poetics of ambiguity" (11). Zum Tragen kommen in den Beiträgen vor allem 'gender', Klimawandel, New Materialism; von Handlungsmacht (agency) der Materie ist die Rede. Ein Autor spricht von einem akademischen Klima, "where the animal has become the new marginalized human, and the plant or even the stone is on its way to becoming the new animal" (65). [2]
Die Schärfe der Positionierung in der Einleitung wiederholt sich in den 13 Beiträgen des Bandes nicht, manches wird relativiert, auch in Frage gestellt, philologisches Handwerk kommt zu seinem Recht. Das Fächerspektrum der Beitragenden reicht von Klassischer Philologie und den Literaturwissenschaften über Philosophie zu Rhetorik und Medienwissenschaft. "Posthuman Antiquities" lautete der Titel der 2014 an der New York University vorausgehenden Konferenz. [3] Die von der Einleitung provozierten Fragen lauten: 1) Werden antike Traditionen überzeugend für aktuelle Diskurse mobilisiert? 2) Werden die klassischen Studien dabei mitgenommen, gar in eine neue Zeit geführt?
Positiv erscheint die Antwort auf die erste Frage für A. Cavarero: "The human reconceived". In Verarbeitung von Nationalsozialismus und Stalinismus spielten Hannah Arendt und Karl Popper [4] Sokrates' 'ontologische' Pluralität menschlichen Meinens als freiheitlichem Kern 'des Politischen' aus gegen Platons Metaphysik als einem geschlossenen, Gesellschaft hierarchisierenden System. Arendts 'posthuman avant la lettre' ist allerdings das der Vernichtungslager. Was sie dagegen in Stellung bringt, sind Früchte humanistischer Bildung; von einem 'non-human turn' kann in den Jahren nach 1945 nicht die Rede sein.
R. Naddaff nimmt als "sounds in Socrates' head" das daimonion, 'non-human Intervention', in den Blick, Instanz jenseits sokratischer Elenktik. Es zeige Sokrates als sich selbst zurücknehmendes Subjekt, "as both human and divine, human and animal [5]" (59). Nur Menschen verfügen - dank Verstandes (noûs/phrónēsis) - über Rhythmus und Harmonie (mousikê, choreía), so Platon in den Nomoi und der Politeia, wie M. Naas vorstellt. Die Grenzen zwischen human und non-human werden hier klar gezogen. Also: "no posthuman antiquities in Plato?" (75) Dies trete mit der Präsentation des human als dessen Gegenüber auf die Bühne.
Eine Reihe weiterer Beiträge erprobt die Verflüssigung der Grenze zwischen Mensch und Natur in der posthumanistischen Absicht, sich vom Anthropomorphismus zu lösen. In Aristoteles' Schriften zu Politik und Zoologie sieht S. Brill Tier und Mensch nicht kategorial, sondern nur nach dem Grad der Intensität des 'geteilten Lebens', unterschieden. "The operation of logos to enable the perception of just and unjust serves to mark the comparatively [meine Hervorhebung] greater political character of one kind of animal" (115), homo sapiens. K. Sampson stellt Töne und Stimmen aus Ilias und Odyssee in Gegensatz zu Platon, wo Stimme und Sprache autonomen Subjekten Ausdruck geben. Des Skamanderflusses "floating voice [...] reveals the fluid boundaries between man and nature" (132). [6] Diese Unbestimmtheit des alten Textes wertet Sampson als Impuls, "[to] help us to create new ways of making our voices flow" (138). G. Sissa nennt Ovids Metamorphosen ein posthuman poem, dessen 'metamorphic fluidity' die Menschen aus dem Mittelpunkt des Seins rücke. Zugleich erweise es sich als anthropozentrisch, insofern die Gefahr, in der verwandelten Substanz ein Stück Mensch zu verzehren, einen speziellen vegetarischen Speiseplan empfehle.
M. Leonard liest in Freuds Spur Sophokles' Ödipus-Tragödien als Verunsicherung eines "account of the human" (81). Den Schlüssel findet sie im Ödipus auf Kolonos, "locating his identity as a man in the moment of his death" (86), Metamorphose "from man to myth" (87). Der Mythos bewegt sich von der Sphinx vor Theben zu den Göttern der Unterwelt beim athenischen Kolonos; "that [...] calls the human subject into question" (91). In der Tragödie sieht Leonard ein Gegengewicht zum aktuellen posthuman turn, wie er fixiert sei auf den Klimawandel, "enthralled to science and its promise of rescue" (92).
B. Holmes rekonstruiert sympatheia in ihrer von der Stoa begründeten vormodernen Bedeutung als die erklärende Kraft der Natur, verantwortlich für 'connectivity' als dem Merkmal für 'Welt', "symptomatic of the immanence of god (also called Reason, Fate, Providence, and Nature)" (240). Sie sieht darin eine Ressource "to contemporary debates about materialism and the ethical, political, and aesthetical implications of relations between the non-human and the human" (243). Aristoteles zitiert in Metaphysik A Hesiod und Parmenides mit der Vorstellung, Eros sei es, der die Dinge bewege und zusammenhalte; dass er das Versprechen eines eigenen Urteils darüber nicht einlöst, wertet C. Barachi als Zustimmung. Metaphysik Λ ist noûs, "intellect in its [...] intuitive dimension" (288), der erste Grund des Seins. Über Platons Symposion verfolgt Barachi die nahegelegte Gleichung von noûs und erōs weiter als von 'our Western tradition' vernachlässigtem Faden - mit dem bemerkenswerten Einschub: "whatever 'our' may mean here" (289).
Verstörend unvorhersehbar ('queer') sind in ihrer dynamischen Performativität die Phänomene der Natur, so E. Bianchi über "ancient physis and queer performativity". "Nature's queerness [...] torques the seriousness of gender" (235) zwischen Natur und Kultur. Gegen die Weiblichkeitsmetaphorik für 'Natur' in patriarchalischer Sicht als ewig werdend und vergehend liest sie die phänomenologischen Spekulationen der Vorsokratiker über Ursprünge der Materie - Verweise auf die Unzugänglichkeit epistemischer Gewissheit. Daraus folge für das Verhalten zur Natur "endless incredulousness and endless responsibility" (236). Die Verantwortung sieht sie in der Fußnote zum Ausdruck gebracht durch die Absage an 'Wachstum' als natürlichem Phänomen "within the human sphere of economics" - die conclusio eine petitio.
R. Hill führt Aristoteles' Interpretation von Zeit als Differenz zu Zeit als virtuellem Ganzen von Erinnerung und 'jetzt' im Werk Bergsons. Auch Irigarays "account of the interval" in "An Ethics of Sexual Difference" (281) lasse sich als Gespräch mit Aristoteles' Zeitkonzept lesen; "the interval designates unassimilable difference between woman and man" (282), als Potentialität je aktualisiert aus Gegenwart und Erinnerung. Am Ende diskutiert Hill mit Irigarays scharfer Abgrenzung ihres Konzepts gegen Aristoteles' "phallomorphic projection" des unbewegten Bewegers (283). "The maternal [...] lurks implicitly as metaphysics' repressed ground" (284).
M. Payne über Schiller, Hölderlin und hellenistische Dichtung ist der einzige all der Beiträge eindringlicher philologischer Arbeit, der für das gewählte antike Textcorpus wie für dessen Rezeption den historischen Ort thematisiert. Sentimentale und hellenistische Dichter teilten das Projekt, ihrer 'post-natural' Welt "of normative human relations" (153) den Rücken zu kehren und als 'Zeugen und Rächer' (Schiller) imaginär wieder zu öffnen zum ganzen Spektrum des 'non-human life': "participation in a chorus" (141), das ist "the larger community of subjects of life" (143) - "work that has constantly to be begun again" (156).
Das in vielen Beiträgen virulente methodische Problem, mit Aussagen über Natur und Welt dem Anthropomorphismus nicht entgehen zu können, wird von J. I. Porter mehr als beiläufig angesprochen. Er skizziert den Zusammenhang zwischen poststrukturalistischer Kritik des Humanismus [7] und einem spekulativen Realismus, der als 'Objekt-orientierte Ontologie' eine Sprache sucht, die in der Lage ist, "to grant to objects a basic autonomy from determination" durch das Subjekt homo (193). 'Hyperobjekte' wie die Schwarzen Löcher, das Sonnensystem oder Empedokles, indem er sich in den Ätna stürzte, "give us a glimpse of a posthumanistic world"(195). Antike Beispiele solcher Spekulationen nennt er die untergründige Instabilität des Realen bei Seneca und Marc Aurel, Heraklits fundamentale konzeptionelle Unsicherheit, das chaotische Geschehen des Gedichtes 'Aetna', den Dichter "an ecocritic avant la lettre, one who is determined to displace the human perspective" (206).
Porter spricht am Ende die Selbsttäuschung des Versuch an, "to imagine the world without ourselves imagining it" (206). Die Gedankenexperimente des spekulativen Realismus zeigten uns "a world that cares little for us" (207). In diesen Tagen formulierte der Leiter des Robert-Koch-Instituts vor der Presse: "Mit dem Virus können Sie nicht verhandeln"; ein grüner Ministerpräsident: "das Virus ist nicht gerecht" [8]. Dem 'non-human' nähern wir uns durch Beobachtung, Experiment, Modellbildung, mit Hilfe von logos. Dringend ist in der Tat die Frage: "Wie regeln wir unser angeknackstes Verhältnis zur Natur?" [9] Der Wert der 'OoO' und des neuen Materialismus, so Porters Resümee, liege nicht im Philosophischen; "either their value is ethical or they have no value at all". Wegen der Unumkehrbarkeit des Klimawandels "may [we] need to start thinking a lot harder" (207). Da mag uns mit Hannah Arendt Sokrates auf dem Markt lieber sein als Platon in der Akademie.
Anmerkungen:
[1] E. V. Spelman: Woman as Body: Ancient and Contemporary Views, in: Feminist Studies 8/1, 1982, 109-131.
[2] E. Heitzer / S. Schultze (Hgg.): Chimära mensura? Die Human-Animal Studies zwischen Schäferhund-Hoax, kritischer Geschichtswissenschaft und akademischem Trendsurfing, Berlin 2018.
[3] In demselben Jahr erschien M. Silk u.a. (eds.): The Classical Tradition. Art, Literature, Thought, wo wie ein Gegenprogramm die ganze Wucht der Antikerezeption als Kernbestand westlicher Kultur entfaltet wurde (sehepunkte 16 [2016], Nr. 5 http://www.sehepunkte.de/2016/05/24737.html [22.05.2020]).
[4] K. Popper: The Open Society and Its Enemies, 1945. H. Arendt: The Origins of Totalitarianism, 1951.
[5] Sokrates als Satyr in der Rede des Alkibiades in Platons Symposion (55).
[6] Ilias 21, 205-327 treffen Skamander und Achill in Wort- und Schwertgefecht aufeinander.
[7] Porter verspricht eine Arbeit über "The Postclassicisms Collective" (190).
[8] Mit gegenteiligem Beleg eröffnen die Herausgeberinnen den Band: Das Schwert, mit dem Kambyses gefrevelt hatte, tötete ihn, als er vom Pferd fiel (Herodot 3,64,3). Pausanias 1,28,11 nennt dies prominentes Beispiel für leblose Objekte (apsycha), die von selbst (automata) an Menschen gerechte Vergeltung übten.
[9] J. Müller-Jung: Das Tier ist nur die Fußnote. Eine Labormaus mit der DNA von Menschen, Frankfurter Allgemeinen Zeitung 112, 14.5.2020.
Justus Cobet