Rezension über:

Leonhard Burckhardt / Stefan Rebenich (Hgg.): Jacob Burckhardt: Alte Geschichte. Teilband 1: Ägypten und Alter Orient. Römische Geschichte: Republik (= Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe; Bd. 23,1), München: C.H.Beck 2022, 1421 S., 9 Abb., ISBN 978-3-406-78126-1, EUR 248,00
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Rezension von:
Justus Cobet
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Justus Cobet: Rezension von: Leonhard Burckhardt / Stefan Rebenich (Hgg.): Jacob Burckhardt: Alte Geschichte. Teilband 1: Ägypten und Alter Orient. Römische Geschichte: Republik, München: C.H.Beck 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/03/37319.html


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Leonhard Burckhardt / Stefan Rebenich (Hgg.): Jacob Burckhardt: Alte Geschichte

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Jacob Burckhardt (JB) wurde 1845 in Basel zum außerordentlichen Professor für Geschichte und Kunstgeschichte ernannt. Seine Vorlesungen galten vor allem dem Aufbau eines historischen Zyklus vom Altertum bis zum "Revolutionszeitalter". 1848/49 las er "Geschichte der römischen Kaiserzeit", 1854/55 "Alte Geschichte bis auf die Diadochen", als "Geschichte des Altertums" 1860/61 und 1867. Die "Römische Geschichte bis Caesar" ergänzte er 1868. 1870 las er "Alte Geschichte mit Ausschluss der römischen", seit 1872 erstmals und dann in dichter Abfolge, seit 1874 ergänzt um ein Kolleg zur "Kunst des Altertums", sieben Mal über "Griechische Culturgeschichte". Dieses Werk dominiert in den Altertumswissenschaften die Rezeption JBs.

In JBs Testament führt die Alte Geschichte die Liste der Collegienhefte an, die einzustampfen seien. Programmatische Sätze daraus zitierte die alte Gesamtausgabe (7, 1929), bekannter durch die von Emil Dürr 1942 herausgegebenen "Historischen Fragmente"; aus der Römischen Geschichte berichtete Karl Christ, Saeculum 1963, ausführlich. JBW 23,1 liegen die Hefte 124 (Alte Geschichte) und 125 (Römische Republik) zugrunde; 23,2 wird 127 (Römische Kaiserzeit) und aus 128 (Deutsche Geschichte) die Geschichte der Germanischen Völker edieren. Aus 124 teilt 23,1 die Alte Geschichte ohne die Griechische Geschichte mit, die "durch die 'Griechische Culturgeschichte' ersetzt wurde bzw. in dieser aufgegangen ist" (1249); Hinweise zur Verknüpfung mit 124 gibt JBW 22, der 9. Abschnitt der Culturgeschichte: Der hellenische Mensch in seiner zeitlichen Entwicklung (1256-1259).

Die Collegienhefte formulieren das aus Exzerpten von Quellen und Literatur gewonnene Vorlesungsmaterial nicht aus. JB trug frei vor. Weit mehr als die nur einmal gelesene Römische Republik wuchs die Alte Geschichte durch Zusätze und Einlegeblätter. Diese integriert die Edition nachvollziehbar zu einem fortlaufenden Text. Die disponierenden Übersichtsblätter wurden nicht ediert (1272); zwei Mitschriften von 1867 sind erhalten. 23,1 stellt als kritische Edition die Frucht uneigennütziger Gelehrsamkeit dar. Zur Herstellung eines lesbaren Textes mit textkritischem Apparat und Kommentar, der die griechischen und lateinischen Zitate übersetzt, kommen der Nachweis von Quellen und Literatur, ein Register historischer Personen und antiker und moderner Autoren mit Stellenverzeichnis, ein Sach- und ein Register der Orte und Völker. Das editorische Nachwort enthält Stichworte zur Interpretation und Einordnung in wissenschaftsgeschichtliche Kontexte (1247-1266).

JB begreift die Alte Geschichte in universalgeschichtlicher Perspektive wie Niebuhr, den er häufig zitiert, als Traditionszusammenhang. "Die großen aegyptischen und babylonisch-assyrischen Entdeckungen" (11) nahm er nicht nur über Duckers Geschichte des Altertums auf; Eduard Meyer kannte er noch nicht. Erhalten ist JBs Mitschrift von Droysens Berliner Vorlesung zur Alten Geschichte 1839/40: ausführlich Vorderasien von Indien bis Ägypten und die griechische, knapp die römische Geschichte. "Alexander hat die Entwicklung Asiens subsumiert und so entstand der Hellenismus." [1]

Ägypten macht "schon durch die bloße Lust der Aufzeichnung" (7) den großen Anfang: in der Bildung von Staat und Gesellschaft ein ungeheurer Sprung aus Zeiten geringer Kenntnis zu höchst vollkommenem Königtum; "den Ursprung [...] würde man nirgends auf der That ertappen" (5). Die erste Anmerkung listet zu den antiken Autoren die neueste ägyptologische Literatur; aus beidem folgen längere Exzerpte. Wissen aus dem Alten Testament wird stets eingearbeitet. Religion und Kultur nehmen vor der "äußern Geschichte" den größten Raum ein. "Die Idee der Fortdauer nach dem Tode" stelle "schon eine wahre Entbindung des Geistigen vom Materiellen" dar (43f). "Babylon, Phönicien, Assur, Iran etc." sind wohl "einem allgemeinen ägyptischen Antrieb unterthan gewesen, ohne welchen sie sich später (und vielleicht gar nicht) entwickelt hätten" (43). Die Griechen sehen sich vielfach als Schüler Ägyptens (68), das "mit Ausnahme der Griechen" noch in der Spätzeit "das geistig vorgerückteste Volk" war; doch lag "im Eindringen des Griechenthums die Auflösung" (89).

Aus der Völkertafel der Genesis und Strabon spricht JB über die Stämme Arabiens, "eine große bewegliche Völkermasse [...] aller Kulturstufen" (91). Spät breche ihnen mit dem Weltbezwinger Mohammed der arabische Welttag an (100). Weit mehr hat JB von den Phönikern zu sagen, einem der "dem babylonischen Culturkreis angehörenden Völker", anders als die großen Despotismen Ägypten und Altbabylon reich an Städten, "eines halben oder ganzen Republicanismus fähig" (125). "Ob die spätere griechische pólis" ihnen "als Vorbildern etwas verdankt?" Die zeitliche Priorität jedenfalls gereiche ihnen zur ewigen Ehre (117). Weitere Stichworte sind Alphabet, Handel, Kolonien, Karthago, Tyros' Freundschaft mit Salomo.

"Alt-babylonisches Reich. 2000-1200", danach übernehmen die Assyrer; beider Kultur sei unmöglich auseinander zu halten. Fast wie das Niltal ist "das Land der natürliche Sitz eines mächtigen Reiches" (103), seine Kultur "nächst der aegyptischen die maßgebende für ganz Vorderasien" (109). Ihre Kosmogenie begnüge sich "nicht ärmlich mit den Ideen der Genesis", "da ihr frühstes Denken schon geschichtlich und aufzeichnerisch ist" (105f.). Die Keilschrift verbindet Babylon mit Assyrern und Persern. JB bemüht sich um sie, auch das "Gemüse von assyrischen Königen", aus Rawlinsons neuesten Aufsätzen (167f.). Weil deren Abfolge den ereignisgeschichtlichen Anhaltspunkt des Alten Orient bietet, enthält das Kapitel zu den Assyrern von Ninos bis zu Ninives Zerstörung lange Abschnitte zu den Juden und zu Babylon und den Umbrüchen vom 8. Jahrhundert bis zu Nebukadnezar. Alexander wollte Babylon, die "glänzendste Stadt der alten Welt", zur Hauptstadt machen (204). Das Kapitel endet mit einem Exzerpt aus der Augsburger Allgemeinen von 1880 über "Die Keilschriftforschung und die biblische Chronologie" (208).

Hebräer, Israel, Judäer, Juden behandelt JB dicht an der und mit kritischem Blick auf die Überlieferung. "Dieß ganze Herumziehen Abrahams [...] sehr darauf gerichtet, ein späteres Anrecht [...] zu begründen" (144). Aus Hitzigs Geschichte des Volkes Israel (1869) exzerpiert er: Identität des allmächtigen Gotts der Patriarchen und Moses' Jahve mit dem persischen Ormuzd. "Durch eine stärkere Denkkraft wurde die Schranke des Dualismus gesprengt, [...] gewann der Geist sich selber, [...], indem das kritische Princip nun auch zwischen wahr und falsch, gut und böse, rein und unrein unterschied" (147). De Wettes Pentateuchkritik folgt JB in der Unterscheidung zwischen dem "höheren sittlich-religiösen Bewußtsein" und dem "öffentlichen Gewissen" der Propheten und der "Erstarrung in der Theocratie" des Priesterstands (191). "Der freiere jüdische Geist regt sich am Meisten in der Diaspora" (201). "Wie muß es den engen hebräischen Gedanken in dem weiten griechischen Gewande zu Muth gewesen sein?" "Später die Gemeinden hellenisirter Juden der wichtigste Herd für das Aufkommen des Christenthums" (JBW 22, 537).

Indien sei, sofern es um Vergangenheit geht, die kenntlich mit Gegenwart und Vergangenheit zusammenhängt, nur bedingt Thema der Vorlesung. Doch stehe seine Menge von Staaten durch Sanskrit, Perser und Alexander mit der Alten Geschichte in Zusammenhang. Die Geschichte "null" stehe dem Reichtum von Literatur, Mathematik, Philosophie gegenüber, aber wir haben die Berichte der Griechen (226). Gegen die Seelenwanderung der Brahmanen steht die Reform des Buddha, "die erste nicht nationale, sondern Weltreligion" (218). "Folgt die wohlfeile abendländische Kritik", endet ein Exzerpt (225).

Über die Perser handelt JB ausführlich von der Religion Zarathustras: "die erste streng ethisch in gut und böse geschiedene Geisteswelt" (233). Das Zendavesta bestünde aus zwei Millionen Zeilen, "während der ganze Aristoteles 445 000 Zeilen betrug" (233f.). Kyros und Dareios eroberten vom Indus bis Nubien und Thrakien eine Weltmonarchie und schufen den "großen Despotenstaat" (268). Kyros beginne mit dem Schwersten, Kleinasien, wozu viele Seiten Herodot folgen; "sehr schön wie Krösos dem Adrestos verzeiht" (258). Die Judäer "mußten sich gedulden", bis Kyros Babylon erobert hatte (260). "Wie sich die Griechenwelt in den persischen Köpfen gespiegelt haben mag?" (268). Das Kapitel schließt mit Persica varia, ausführlichen Exzerpten aus Strabon, Herodot und Plutarchs Artaxerxes; "Wie sich Herodot in Xerxis Mund das Programm der Weltmonarchie denkt" (275).

"Nur das Ganze spricht", das Ganze "der Menschheit: der [...] geschichtlich geoffenbarten" (3); "unser Geist [...steht] in dem Bewußtsein seines Zusammenhanges mit dem Geist der entferntesten Zeiten und Civilisationen" (289). Wie eine Interpretation JBs liest sich in Droysens Historik-Vorlesung von 1857: "Es ist der Gedanke der Menschheit, d.h. die Erkenntnis, daß über den natürlichen Besonderheiten [...] die Einheit ihrer geistigen Natur stehe und gelte", der Gedanke der Einheit der sittlichen Mächte in verschiedener Gestalt im Buddhismus, im Hellenentum, endlich im Christentum. [2] JB schließt von der Einheit seiner Erzählung die Vorgeschichte als die wenig deutlichen Anfänge von Kultur aus, China und Japan als die Völker, "deren Leben nicht in das unsrige" (4), "deren Cultur nicht in die europäische eingemündet ist". Die "Naturvölker", die nicht "der Geschichte im höhern Sinn" angehören, verweist er an die Ethnographie (10). "Der Wilde" lebt bloß in der Gegenwart, "Barbaren" sind Gegenkultur (6); immerhin denkt JB an "mögliche Kritik der Barbaren gegen uns" (9). Er hierarchisiert zwischen aktiven und passiven Rassen, so zu Ägyptens Bevölkerung: "der Grundstoff Neger, aber mit einem uralten Zustrom der aciven Race gemischt" (13). Seine Perspektive ist kulturalistisch unter Einfluss der vielfach exzerpierten antiken Ethnographie (1250f.; 1256-1259). "Die alten Völker des Orients [...] wirken auf uns als Racen", jeder Einzelne nur als Typus; seit den Griechen endlich entwickelte sich das Individuum (7f.). "Daß Orient und Occident zusammengehören, daß sie eine Menschheit bilden, verdankt die Welt Rom"; seine Geschichte "ist im höchsten Sinne der zweite Theil der Geschichte des Altertums" (285).

JBs römische Republik gestaltet ein tradiertes Narrativ aus umfangreich exzerpierten Quellen und den Römischen Geschichten von Niebuhr, Schwegler und vor allem Mommsen als eine holprige Erfolgsgeschichte. Deren Rhythmus pointiert 1) die Entwicklung von Roms sittlichen Kräften, 2) seine "Bestimmung", den Hellenismus "zu retten" (613), 3) die Rolle Caesars, "ein italisch-hellenisches Reich mit zwei Sprachen und einer Nationalitaet" zu schaffen (840) und so "die Schicksale der Welt für Gegenwart und Zukunft" zu ordnen (843). 1) In den Ständekämpfen standen sich "die Noth der plebs" (479) und "patricische Brutalität" (560) gegenüber. Daraus entwickelte sich "eine andere Art von Politik und Tugend als in irgend einer griechischen Republik" (286), "geregelte Opposition statt griechische Demagogie" (428). Rom scheint "die richtige Behandlung aller Machtsachen angeboren." Karthago verschaffte "die deutliche Einsicht, daß es sich um Weltherrschaft handle" (286).

2) Roms "Bewältigung der hellenistischen Ostländer" erhielt Alexanders Erbe am Leben; "durch das Medium des weltculturbeherrschenden Diadochenthums hindurch" lernte Rom das Griechentum recht kennen. Es "liebte an Griechenland wesentlich die Cultur; diese wollte und mußte es übernehmen und retten" (JBW 22, 517). "Wer Nichtrömer war, hatte jetzt alle Muße [...], mit alexandrinischer Vielseitigkeit der römisch werdenden Weltcultur zu dienen" (669). Mit den "enormen Prämien" seiner Erfolge "verwilderte Rom". Aber "die Republik kann nicht sterben"; "mit der Monarchie eilt es noch nicht" (287). 3) Caesar rettete "zuerst das Reich durch Eroberung Galliens und Sicherung vor den Germanen - dann nimmt er es in Besitz" (287). "Er blieb demokratisch auch als Monarch", zitiert JB ironisierend Mommsen: "Dieß alles Wortgeklingel; Caesar that einfach was einmal geschehen mußte" (826). Die "Völkerwanderung (hatte er) um 400 Jahre hinausgeschoben". "Ihm dankt der Westen seine classische Cultur wie dem Alexander der Osten" (789). Mit trockener Dialektik endet JB die Vorlesung: "Die Monarchie wurde zunächst als Triumvirat geboren; die Geburtsumstände: Die Proscriptionen" (858). Viel verdankt sie Mommsen. Die Emphase der Gesamtkonstruktion verweist auf Droysen.

In der Durchführung erkennen wir die drei Potenzen Staat, Religion, Kultur der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", als Vorlesung "Über das Studium der Geschichte" zuerst 1868/69 (JBW 10). Die Kontingenzen des selbstbewussten Narrativs laufen mit Notwendigkeit auf unsere Gegenwart zu - ohne Hegel; für einen göttlichen Plan fehlt JB der Glaube. Die "geheimen Causalitäten" der Völker und Individuen "bleiben verborgen" (285), die Dinge walten (288). "Leitende Idee: Der Gang der Cultur. [...] Das Continuum höchst großartig; die Menschheit ums Mittelmeer und bis zum persischen Busen ist wirklich ein belebtes Wesen, das auch einmal im römischen Weltreich bis zu einer Art Einheit durchdringt; [...] nach abermals 1500-2000 Jahren greift sie dann von Neuem aus, assimilirt sich America und ist jetzt im Begriff Asien gründlich zu öffnen. [...] Wie lang es noch dauern wird, bis alle passiven Existenzen von ihr unterworfen und durchdrungen sind?" Fazit: "Das Glück, dieser activen Menschheit anzugehören" (10). "Parteilichkeit für einzelne Zeitalter" nennt JB "thörichte Überschätzung irgend einer Vergangenheit". "Und doch hätte das Alterthum schon eine große specielle Sachwichtigkeit für uns: [...] die Geburtsstätte [...] des dauerndsten Theiles unserer Cultur". "Wir werden das Alterthum nie los, solange wir nicht wieder Barbaren werden" (3).

Die Edition ist mehr als ein pflichtgetreuer Baustein zu dem Monument JB, der sich die Kraft zu Disposition und Synthese eines gigantischen Stoffes abverlangte. Wir erhalten einen tiefen Einblick in das sich im 19. Jahrhundert nach Raum, Zeit und Gegenständen dynamisch fortentwickelnde europäische Narrativ (das der Sache nach nur eurozentrisch sein kann). Sie liefert uns Material zu dessen historisierender Reflexion unter den Herausforderungen globalisierter Perspektiven. Im Epilog seiner Einleitung klagt JB über Dünkel der modernen Welt gegenüber "Intellektuellem und Sittlichem." "Vollends aber im großen Publicum ist das Alterthum aus der Mode" (7).


Anmerkungen:

[1] Aus dem Anfang der Mitschrift in Kaegis Biographie, JB II, 1950, 40.

[2] In der Rekonstruktion von Peter Leyh, 1977, 308.

Justus Cobet