Peter Hoffmann: Peter der Große als Militärreformer und Feldherr, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, 271 S., ISBN 978-3-631-60114-3, EUR 46,80
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"Seine häufig betonte Genialität war in erster Linie die Bewältigung eines immensen Arbeitspensums, das er sich selbst auferlegt hatte [...]. Seine Reformen, auch im militärischen Bereich sind nicht der geniale Sprung in neue Dimensionen, sein Wirken vollzog sich im Rahmen einer kontinuierlichen, 'vernünftigen' Entwicklung, die auf Vorhandenes aufbaute, es systematisch weiterentwickelte, mit ungewöhnlicher Energie das Mögliche durchsetzte" (228). Diese urteilenden Sätze bilden den Kristallisationspunkt der jüngst erschienen Monographie aus der Feder Peter Hoffmanns über den großen russischen Zaren. Der bekannte Osteuropahistoriker legt mit der Studie eine gründlich überarbeitete und mit einem wissenschaftlichen Apparat versehene Erweiterung einer ursprünglich für den Militärverlag der DDR verfassten Arbeit vor. Sie schildert den Weg des Petrinischen Reformwerkes, verknüpft dasselbe mit dem biographischen Schicksal ihres Schöpfers und richtet ihr Augenmerk hierbei nicht allein auf den Kern der militärischen Erneuerung Russlands, sondern auch auf die ökonomische Basis und die gesamtgesellschaftlichen Wirkungen. Einmal mehr tritt uns das Militär als "Schwungrad an der Staatsmaschinerie" (Hintze / Kröner) entgegen. Die Ausprägung eines modernen Finanz- und Steuersystems ist eines der wesentlichen Ergebnisse der Petrinischen Militärreform, die Erfassung der "Seelen", also erste Einwohnerzählungen, eine weitere. Wobei Hoffmann hier, wie auch in anderen Fällen, die Probleme einer exakten Übertragung russischer Begriffe in den deutschen Sprachgebrauch thematisiert. Peters Reformwerk fußt nicht auf der überragenden Schöpferkraft der zweifelsohne bemerkenswerten Persönlichkeit des Zaren, sondern erwuchs aus bereits zuvor deutlich sichtbarem Änderungsbedarf.
Hoffmanns Monographie zerfällt im Grunde in zwei große Abschnitte. Im ersten schildert er den Werdegang des Zaren, bettet ihn in die historische Entwicklung Russlands ein und zeigt eindrucksvoll Peters Wachsen als Feldherr im Großen Nordischen Krieg. Schon hier tritt uns der Zar als ambivalente Persönlichkeit entgegen. Auch er liebte als Kind, gleich seinem Rivalen Karl XII., das Kriegsspiel, schuf sich die berühmten Spielregimenter Semjonowski und Preobrashenski. Auch Peter nahm an den Kampfhandlungen persönlich teil, den Tod nicht fürchtend. Anders aber als Karl XII., war Peter nicht in erster Linie Soldat, der sich um die Politik nur wenig kümmerte, sondern er sah alle militärischen, ökonomischen, politischen und sozialen Entscheidungen im Gesamtkontext seines Reformvorhabens. - Im Übrigen ist das hier getroffene Urteil über Karl XII. nicht haltbar. Sowohl der seit langem bekannte Briefwechsel des Schwedenkönigs mit seiner Schwester, als auch die nordeuropäische Forschung haben das alte einseitige Bild vom Kriegerkönig zumindest teilweise revidiert.
Hoffmann schildert in diesem ersten Abschnitt auch Peters Kampf um den Zugang zur Ostsee, um das Baltikum und das Ingermanland. Hier bietet er, wo nicht neue Fakten, so doch eine Verschiebung der Perspektive. Besonders durch den starken Fokus der nordeuropäischen und deutschen Literatur auf die Kriegführung der Schweden blieben die Kämpfe nach der Schlacht bei Narva oft als marginale Randerscheinung zurück.
Bereits in diesen ersten Kapiteln werden Grundzüge des neuen Heeres- und Flottenaufbaues sichtbar. Auch hier gelingt es Hoffmann, das langsame organische Wachsen des Neuen, eben das evolutionäre, nicht das revolutionäre Prinzip des Reformprozesses zu verdeutlichen. Zwar erkannte Peter, dass das altrussische Strelitzenheer unzeitgemäß war, welches auf Aushebung in den Städten und einer eigentümlichen Erbkriegerkaste beruhte. Dennoch kämpften weiterhin Strelitzeneinheiten während des gesamten Großen Nordischen Krieges in allen Schlachten. Besonders interessant dürfte für die militärhistorische Forschung der Umstand sein, dass die russische, von Peter formierte Kavallerie ausschließlich aus Dragonerregimentern bestand, ein im europäischen Kontext einmaliger Vorgang. Somit waren alle berittenen Verbände gleichzeitig als Infanterie einsetzbar. Auch die Durchführung von regelmäßigen Zielschießübungen mit Mannschaften (169) ist ungewöhnlich im Zeitalter der Lineartaktik, in der der gezielte Schuss in europäischen Heeren unerwünscht und angesichts ungezogener Gewehrläufe in Gefechtsformationen ausgeschlossen war.
Im zweiten großen Abschnitt des Buches wendet sich Hoffmann den konkreten Reformen im Einzelnen zu. Er legt hierbei den Schwerpunkt auf das Kriegsreglement von 1716, auf das Marinereglement sowie auf die Schaffung einer geeigneten Offiziersausbildung.
Die Schilderung der Vorbilder und der Schritte des Werdens der neuen Vorschriften bietet teilweise Pionierarbeit. Andererseits schildert die Studie lediglich die Inhalte der wesentlichen Passagen der Reglements und überträgt diese vorbehaltlos in die Praxis. Der Unterschied zwischen normativem Anspruch und praktizierter Wirklichkeit wird so nicht deutlich. Hoffmann ist beispielsweise der Auffassung, dass betrunkene Mannschaftsdienstgrade der russischen Marine "acht Tage bei Wasser und Brot in Eisen gelegt" wurden, da dies so im Artikel 33 des Marinereglements stehe. In der jüngeren Vergangenheit hat unter anderen Maren Lorenz den gravierenden Spielraum zwischen gesetzlicher Vorgabe und tatsächlichem Strafmaß im frühneuzeitlichen Militärwesen am schwedischen Beispiel eindrucksvoll dargestellt. [1]
Zu den großen Reformen Peters, die mittelbar mit den Neuerungen in Heer und Marine verbunden waren, gehörte auch die Umgestaltung der Verwaltung. So erkannte der Zar die Nachteile des seit dem 15. Jahrhundert bestehenden Prikassystems. Ein Prikas war eine Verwaltungsbehörde, die aus einem bestimmten Anlass geschaffen wurde und aufgabenbezogen arbeitete. Eine ressortbezogene Arbeit war ebenso wenig üblich wie die Bündelung aller zur Erfüllung des jeweiligen Auftrages nötigen personellen und materiellen Mittel. Zudem gab es zahllose Kompetenzüberschneidungen. Peter schuf eine an europäischen Vorbildern geschulte Zentralverwaltung, die auf einem Senat und auf Kollegien beruhte. Zudem erkannte er die Notwendigkeit einer bis ins beginnende 18. Jahrhundert nicht vorhandenen Regionalverwaltung. Die Überlastung der Zentralbehörden war offensichtlich. Dass Hoffmann hier Probleme des Zusammenspiels von Regional- und Zentralverwaltung nicht ausführlicher thematisiert, ist einerseits dem begrenzten Rahmen seiner Arbeit, andererseits dem unzureichenden Forschungsstand geschuldet. Im Gegensatz zu den nordischen Ländern liegen bislang zur russischen Verwaltungsgeschichte unter Peter I. kaum Studien vor, so dass Hoffmanns Ausführungen teilweise "hypothetischen Charakter" (197) tragen. [2]
Besonderen Wert erhält Hoffmanns Studie durch die vorbehaltlose Nutzung der jüngeren russischen wie auch der älteren sowjetischen Literatur. Diese fand und findet in Nord- und Westeuropa, wie der Autor zu Recht kritisch anmerkt, zu wenig Beachtung. Ohne die Historikern oft zu eigene Scheu vor schöngeistiger Literatur bezieht Hoffmann auch diese in seine Betrachtungen ein. So verweist er auf den anregenden Charakter der Lektüre des Romans "Peter I." des sowjetischen Autors Alexej Tolstois, ohne auch nur im Mindesten das eigene wissenschaftliche Ethos zu verletzen.
Andererseits, und diesen Vorwurf wird sich der Autor im Gegenzug gefallen lassen müssen, rezipiert er die nordeuropäische Forschung kaum. [3] Dass er einen Literaturbericht Hans Baggers erwähnt, entschädigt diesbezüglich nicht. Die häufige Nutzung der Schriften Findeisens in diesem Zusammenhang gereicht Hoffmann nicht zum Vorteil, sind doch die Arbeiten des in Schweden lehrenden vielschreibenden Professors häufig fehlerhaft. Seine Biographie Karls XII. erreicht nicht annähernd das Niveau eines Haintz oder Bengtson.
Einige kleinere Fehler sind eher dem Lektorat als dem Autor anzulasten. So wird in den Anmerkungen bisweilen mit "ff.", dann wieder mit vollständiger Seitenangabe gearbeitet. Rechtschreibfehler (22), die Verdrehung von Jahreszahlen in der Zeittafel (239) sowie die doppelte Erwähnung der Schlacht bei Kalisch (240) und weitere kleinere Marginalien lassen sich bei einer zweiten Auflage sicher vermeiden. Diese geringen Kritikpunkte berühren den Wert von Hoffmanns interessanter und impulsgebender Arbeit nicht. Ihre Lektüre lohnt sich nicht nur für den Militär-, den Frühneuzeit- oder den Osteuropa-Historiker, sondern vermittelt auch jedem Interessierten einen eindrucksvollen und gut lesbaren Überblick über das militärische Reformwerk und den Lebenskampf des Zaren.
Anmerkungen:
[1] Maren Lorenz: Das Rad der Gewalt. Militär und Gewalt in Norddeutschland nach dem dreißigjährigen Krieg 1650-1700, Köln / Weimar / Wien 2007.
[2] Eine Ausnahme stellt hier das Werk Michael Schippans dar: Michael Schippan: Die Einrichtung der Kollegien in Rußland zur Zeit Peters I., Wiesbaden 1996.
[3] So erwähnt Hoffmann beispielsweise explizit, dass Peter in Kopenhagen persönlich Einblick in die dortige Zentralverwaltung nahm (198), ohne die wesentlichen Studien der dänischen Forschung zu konsultieren. Stellvertretend: Gunner Lind: Den heroisk tid? Administrationen under den tidelige Enevaelde 1660-1720, in: Dansk Forvaltningshistorie. Bd. 1. København 2000, 159-221; Boisen Schmidt: Studier over Statshusholdningen. Bd. 1. Aarhus 1967.
Martin Meier