Peter Hoffmann: Carl Goerdeler. Gegen die Verfolgung der Juden, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 364 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-21024-3, EUR 39,90
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Der Altmeister der deutschen Widerstandsforschung hat ein Buch vorgelegt, mit dem er der These entgegentritt, der zivile Kopf der Verschwörung vom 20. Juli 1944, der frühere Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler, sei ein "Antisemit" gewesen. Damit wendet sich Hoffmann vor allem gegen Aussagen von Christof Dipper und Hans Mommsen; die Diskussion um die Haltung des nationalkonservativen Widerstands zu den Juden geht schon auf die frühen 1980er Jahre zurück.
Hoffmann beginnt mit einer Zusammenfassung der Politik in Deutschland gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil seit der preußischen Judenemanzipation von 1869. Er erinnert noch einmal daran, dass in konservativen und politisch rechts stehenden Kreisen ein gesellschaftlicher Antisemitismus durchaus nicht unüblich war. Die Genese der Entscheidung Hitlers, mitten im Krieg das europäische Judentum insgesamt physisch auszurotten, ist damit aber noch nicht hinreichend erklärt. Die kumulative Radikalisierung der antijüdischen Politik ist vielmehr ein Spezifikum des militanten Nationalsozialismus.
Carl Goerdeler hat in vielen Eingaben und Denkschriften an Göring und auch Hitler immer wieder auf den Schaden für die deutsche Außenwirtschaft hingewiesen, der durch ein ungesetzliches, gewalttätiges Vorgehen gegen jüdische Menschen und Geschäfte eintreten musste; dass es eine "Judenfrage" gibt, ebenso wie eine "Kirchenfrage" und sogar eine "Logenfrage", hat Goerdeler dabei nicht grundsätzlich bezweifelt. Aber auch so stieß sein Drängen auf Mäßigung und rechtsstaatliches Vorgehen bei den NS-Spitzen auf wenig Gegenliebe.
Dabei bleibt offen, inwieweit Goerdelers Texte von vor 1939 seine wahre Überzeugung reflektieren, und inwieweit er diese hinter solchen Argumenten zurücktreten lässt, von denen er annehmen kann, sie fänden bei Hitler gerade noch Gehör.
Diese quellenkritische Frage gilt naturgemäß nicht mehr bei solchen Denkschriften, die keineswegs für eine Rezeption durch das Regime bestimmt waren, sondern eindeutig Goerdelers oppositioneller Arbeit zuzuordnen sind. Hoffmann belegt seine Thesen in großem Detail, wobei allerdings der Bezug zu Goerdeler stellenweise etwas in den Hintergrund tritt. Goerdelers heutige Kritiker haben darauf hingewiesen, auch nach der Niederlegung seiner öffentlichen Ämter habe der frühere Leipziger Oberbürgermeister ganz im Duktus der Zeit einen eigenen Judenstaat gefordert, dessen Staatsangehörigkeit dann alle deutschen Juden besäßen, so dass sie quasi als Ausländer zu behandeln seien. Hoffmann hält dem entgegen, dass Goerdeler beim Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit "Ausnahmen" vorgesehen habe, etwa für Kriegsgediente, dass diese "Ausnahmen" in Wirklichkeit aber das Gros der alteingesessenen deutschen jüdischen Familien betroffen hätte, und dass dies Goerdeler auch klar gewesen sein müsse - hier verliert sich der Band seitenweise in statistischen Berechnungen, die nur schwer nachvollziehbar sind.
Das versperrt etwas den Blick dafür, was Hoffmann und was Fachkollegen wie etwa Hans Mommsen mit "antisemitisch" meinen. Goerdeler war Jurist, und wenn er auch kein Vertreter der parlamentarischen Monarchie war, so betraf sein eigentliches Anliegen die Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse. Das sollte auch für den Umgang mit den deutschen Juden gelten, die einen rechtlich garantierten, aber eben doch besonderen Status bekommen sollten. Selbst die von Hoffmann manchmal auch mehrmals zitierten Textstellen belegen diesen Befund. Solches Denken würde man heute als "antisemitisch" betrachten. Das macht Goerdeler aber noch nicht zum Teilhaber am deutschen Menschheitsverbrechen, der systematischen Ermordung von fast sechs Millionen Juden, also zu einem annihilatorischen Antisemiten. Im Gegenteil, gegen die Entrechtung, Demütigung, Enteignung und letztlich physische Vernichtung seiner jüdischen Mitbürger steht Goerdeler auf, geht er letztlich sogar in den Tod.
Insofern wäre der Debatte vielleicht mit einer klareren Definition der Begrifflichkeit mehr gedient gewesen als mit einigen der hier ausgebreiteten Details. Bleibt anzufügen, dass ein besseres Lektorat des Textes auch dazu hätte beitragen können, die Argumente des Doyens der deutschen Widerstandsforschung klarer hervortreten zu lassen.
Winfried Heinemann