Ulrich Becker / Hans Günter Hockerts / Klaus Tenfelde (Hgg.): Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 87), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010, 354 S., ISBN 978-3-8012-4203-9, EUR 24,00
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Hans Günter Hockerts: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 199), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 367 S., ISBN 978-3-525-37001-8, EUR 59,95
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Henry Rousso: Vichy. Frankreich unter deutscher Besatzung 1940-1944. Übersetzt von Matthias Grässlin, München: C.H.Beck 2009
Dagmara Jajeśniak-Quast: Stahlgiganten in der sozialistischen Transformation. Nowa Huta in Krakau, EKO in Eisenhüttenstadt und Kunčice in Ostrava, Wiesbaden: Harrassowitz 2010
Niels P. Petersson: Anarchie und Weltrecht. Das Deutsche Reich und die Institutionen der Weltwirtschaft 1890-1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009
Hans Günter Hockerts: Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München: Oldenbourg 2004
Hans Günter Hockerts / Günther Schulz (Hgg.): Der "Rheinische Kapitalismus" in der Ära Adenauer, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Hans Günter Hockerts: Ein Erbe für die Wissenschaft. Die Fritz Thyssen Stiftung in der Bonner Republik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018
In den vergangenen zehn Jahren erschien eine Vielzahl von Darstellungen und Synthesen zum deutschen Sozialstaat, allen voran die elfbändige Geschichte der Sozialpolitik nach 1945 (2001-2008), die vom Bundesministerium für Arbeit herausgegeben wurde. Diese Werke haben die historischen Kenntnisse über das sozialpolitische Handeln der beteiligten Akteure stark erweitert, sodass nun die Zeit für problemorientierte Aufsätze unter Einbeziehung innovativer Fragestellungen gekommen ist. Beide hier zu besprechenden Bände leisten in Bezug auf diese Reorientierung einen wertvollen Beitrag und zeigen, dass die Forschung zur Sozialpolitik keineswegs an ihrem Ende angekommen ist.
Der Sammelband "Sozialstaat Deutschland", der zu Ehren Gerhard A. Ritters anlässlich dessen 80. Geburtstags erschien, widmet sich einer Reihe neuer thematischer Aspekte zur deutschen Sozialstaatlichkeit seit dem 19. Jahrhundert. Die Einleitung der drei Herausgeber schließt sich dem Ritterschen Grundverständnis eines ambivalenten Sozialstaates an, der einerseits Bedürftige aus sozialer Not und Unsicherheit befreit, andererseits der Disziplinierung des Einzelnen durch Einbindung in ein bürokratisches System dient. Diesem Forschungsimpuls folgen die Detailstudien nur teilweise, obgleich jede für sich interessant ist. Insgesamt wirkt ihre Zusammenstellung doch eher disparat. Das Buch ist in drei Großkapitel gegliedert: (I) Akteure und Adressaten, (II) vergleichende und internationale Perspektiven, (III) neue Herausforderungen des Sozialstaates.
Ulrike Haerendel eröffnet das erste Großkapitel mit einem Beitrag zu geschlechterspezifischen Differenzen in der Bismarckschen Sozialversicherung. Sie analysiert die Zusammensetzung des Versichertenkreises ausgewählter Alters- und Invalidenkassen. Daran schließt sich eine Untersuchung von Klaus Tenfelde zu Machtfragen und Interessenslagen in den betrieblichen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik an. Im Besonderen geht der jüngst verstorbene Ritter-Schüler auf die alltägliche Arbeit der neu installierten Betriebsräte bei Krupp Essen und Bayer Leverkusen ein. Christiane Reuter-Boysen untersucht das Eingabewesen in der frühen DDR (1949-1960) und schließt sich methodisch Beatrix Bouviers Untersuchung für die Spätphase des ostdeutschen Teilstaates an. [1] Die Autorin deutet die Beschwerden über eine ungenügende soziale Sicherung als Form sozialen Protests. Eine Auseinandersetzung mit den Wirkungen der Eingaben fehlt jedoch. In den Beiträgen, die das Kapitel beschließen, widmen sich drei Experten der bundesdeutschen Sozialpolitik ihren eng abgesteckten Spezialgebieten. Friederike Föcking betont hinsichtlich der Expertenberatung bei der bundesdeutschen Fürsorgereform, dass der Anstoß aus der Ministerialbürokratie kam. Da zudem die politischen Verbände einen starken Einfluss ausübten, lässt sich kaum von einer Verwissenschaftlichung des Politikfeldes sprechen. Winfried Süß wendet sich der Armutsdebatte zwischen 1961 und 1989 zu, konstatiert einen Rückgang der Altersarmut und identifiziert alleinerziehende Frauen als die signifikanteste Risikogruppe. Schließlich legt Wilfried Rudloff eine Typologisierung von Innovationspfaden in der Behindertenpolitik vor. Er stellt die Organisation der Betroffeneninteressen stark in den Vordergrund.
Hartmut Kaelble eröffnet das Kapitel zu den internationalen Perspektiven mit einer Betrachtung der Methoden des historischen Vergleichs. Mit Rückblick auf die vergangenen beiden Jahrzehnte hebt er vier Paradigmenwechsel hervor: Der westeuropäisch-transatlantische Vergleich öffnete sich nach Ost- und Südeuropa; transnationale Akteure fanden eine stärkere Beachtung; die Untersuchungen zum Austausch sozialpolitischer Konzepte nahmen zu; die Interdisziplinarität der Forschung nahm ab, weil sich die Historiker von den sozialwissenschaftlichen Methoden entfernten. Ergänzt werden die methodischen Betrachtungen durch zwei rechtshistorische Studien von Bernd Schulte zum europäischen Sozialmodell und von Hans-Jürgen Puhle zu verschiedenen Konstruktionsmodellen des Sozialstaates. Peter Köhler lässt eine Detailstudie zum schwedischen "Volksheim" folgen. Der abschließende Beitrag Ulrike Lindners wendet sich ihrem Spezialgebiet zu, dem deutsch-britischen Vergleich des Gesundheitssystems nach 1945. Klare Unterschiede in den beiden Nachkriegsgesellschaften traten in der Schwangerschaftsvorsorge, der Behandlung von Geschlechtskrankheiten und der Tuberkulose zutage.
Stärker essayistisch präsentieren sich die vier Beiträge des dritten Großkapitels. Hans-Günter Hockerts widmet sich dem "Abschied von der dynamischen Rente", den er der Riester-Reform 2001 und dem Nachhaltigkeitsgesetz 2004 zuschreibt. Die Einschnitte führten zur Aufgabe des 1957 eingeführten Prinzips der gleichgewichtigen Entwicklung von Renten- und Löhnhöhe. Als Hauptgrund benennt der Beitrag die veränderte demografische Entwicklung, die die Grundvoraussetzungen für die Dynamisierung erschütterte. Jürgen Kocka sieht eine zivilgesellschaftliche Basis als Voraussetzung für einen funktionstüchtigen Sozialstaat an. An dessen Wurzeln verortet er selbstorganisierte Gruppen und soziale Netzwerke. Der Sozialjurist Franz Ruland will die "notwendige Diskussion" anstoßen, die Rentenversicherung zu einer allgemeinen Erwerbstätigenversicherung umzubauen. Mitherausgeber Ulrich Becker wendet sich schließlich der Rolle der Europäischen Union mit ihren Rückwirkungen auf die nationale Ausgestaltung des Sozialstaates zu.
Das zweite Werk präsentiert eine Anthologie von Aufsätzen des emeritierten Münchener Zeithistorikers Hans Günter Hockerts, die erstmals zwischen 1981 und 2010 veröffentlicht wurden. Der Band umfasst die Kapitel: (I) Sozialstaatliche Gründung der Bundesrepublik, (II) Entfaltung des westdeutschen Sozialstaates, (III) DDR als gescheiterte Alternative, (IV) Gefährdung des Sozialstaates nach dem Boom. Die Beiträge werden im "Zeithorizont ihrer Entstehung" (S. 7) belassen, d.h. wenig aktualisiert. Nur in zwei ausgewählten Fällen setzt sich ein Nachwort mit der Entwicklung der Forschungsdiskussion seit der Erstveröffentlichung auseinander. Hockerts präsentiert den Sozialstaat als wichtiges Korrektiv der liberalen Demokratie. Dieses Regierungssystem sei gegenüber den ideologischen Gegenbewegungen des Faschismus und des Kommunismus als Siegerin aus dem 20. Jahrhundert hervorgegangen. Es erwies sich aber in hohem Maße von der Sozialstaatlichkeit abhängig, weil die ihm zugehörige marktwirtschaftlichen Ordnung unablässig soziale Ungleichheit und Verteilungskonflikte hervorbrachte.
Der erste Text wendet sich der sozialen Gründungskrise der westlichen Besatzungszonen bzw. der frühen Bundesrepublik und der Rolle des Sozialstaates als Integrationselement zu. Das Nachwort betont, dass sich die Nachkriegsrekonstruktion nicht allein auf das rasche Wirtschaftswachstum reduzieren lasse, sondern auch von der sozialstaatlichen Flankierung abhing. Danach arbeitet ein Beitrag, der sich mit dem Einfluss des britischen Beveridge-Plans auseinandersetzt, die starke Pfadabhängigkeit und die traditionelle Verwurzelung des westdeutschen Sozialstaates heraus. Alliierte Reformkonzepte blieben ebenso ohne Realisierungschance wie die von der oppositionellen SPD zeitweise favorisierte Orientierung an der internationalen Reformdebatte. Der Beitrag "Wie die Rente steigen lernte" fasst die wichtigsten politischen Entscheidungsprozesse bei der Einführung der dynamisierten Rente 1957 zusammen. Der Text zur Wiedergutmachung, dessen zeitlicher Horizont sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erstreckt, zieht eine Bilanz in dem verästelten, grenzüberschreitenden Themengebiet. Obwohl sich die Forschungsperspektive seit dem Erstabdruck (2001 in den VfZ) stark internationalisierte, ist die Debatte immer noch aktuell, wie das Nachwort zu Recht hervorhebt.
Auch das Kapitel zur Entfaltung des bundesdeutschen Sozialstaates greift zentrale Aspekte von Hockerts' Forschungen wieder auf. Die Rentenreform von 1972 wird als Lehrstück über den Einfluss der Parteienkonkurrenz dargestellt. Unter der Überschrift "Metamorphosen" des Sozialstaates wird Wesentliches zur Periodisierung der deutschen Sozialstaatsgeschichte mitgeteilt. Dieser Essay von 1990, der sich mit dem Verhältnis von Sozialgeschichte und Sozialpolitik befasst, macht die Einflüsse letzterer auf die Veränderung der Erwerbsstruktur und der Einkommensverteilung deutlich. Die zusammenfassende Betrachtung einer Kernperiode der Reformära, der Jahre 1966 bis 1974, geht auf zahlreiche Aspekte des Wandels der sozialstaatlichen Expansion ein, die kurz vor ihrem Ende stand.
Die Geschichte der DDR-Sozialpolitik wird von Hockerts unter der Prämisse des Scheiterns des ostdeutschen Teilstaates geschrieben. Der Beitrag zu drei Wegen deutscher Sozialstaatlichkeit setzt die DDR - wie der gleichnamige 1998 publizierte Sammelband - mit den beiden anderen prägenden deutschen Ordnungssystemen des 20. Jahrhunderts, der nationalsozialistischen Diktatur und der Bonner Republik, in Beziehung. Zwei Beiträge von 1994 reflektieren den Wissensstand, bevor die systematische Auswertung relevanter Aktenbestände einsetzte. Sie regten die Paradigmenbildung der ersten Forschergeneration nach dem Zusammenbruch der DDR an: der erste, indem er Thesen zu Grundlinien und sozialen Folgen der Sozialpolitik nach einzelnen Teilbreichen formulierte, der zweite durch Infragestellen des sozialpolitischen Legitimitätsanspruchs der DDR-Diktatur. Ganz anders präsentiert sich der Wiederabdruck eines 2009 publizierten Vergleichs der beiden deutschen Sozialstaaten. Auch wenn Hockerts' thematisches Interesse weitgehend dasselbe bleibt, präsentiert er nun die Ergebnisse langjähriger Forschungsarbeiten in vergleichender Perspektive: Auswirkung des wirtschaftlichen Koordinationsmechanismus (Plan versus Markt), Verbindung mit dem demokratischen Verfassungsstaat, Entbürgerlichung im Kontrast zur Verbürgerlichung.
Im abschließenden Großkapitel zur Sozialstaatlichkeit nach dem Boom greift der erste Kurzbeitrag - die Einführung eines 2010 erschienenen Sammelbandes zur sozialen Ungleichheit - das Thema Armut im entwickelten Sozialstaat auf. Unter der Überschrift "Abschied von der dynamischen Rente" werden sodann die Diskussionen des Jahres 1957 in den politischen Kontext nach der Jahrtausendwende gestellt. Ein Essay "Vom Problemlöser zum Problemerzeuger" schließt den Band ab. In seiner Blütezeit war der Wohlfahrtsstaat in der Lage, soziale Konflikte zu entschärfen. Als der Nachkriegsboom endete, machten sich die Grenzen des sozialstaatlichen Ausbaus bemerkbar: Der demografische Wandel warf Finanzierungsprobleme auf, die Ausgabenforderungen überstiegen das staatliche Leistungsvermögen, und ein hohes Anspruchsdenken der Bürger stellte sich gegen Initiativen zur Selbsthilfe.
Die Hockerts-Anthologie, aber auch der Sammelband messen der Sozialpolitik einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert zu, wenn z.B. deren Fähigkeit zur sozialen Integration betont wird. Nachdem sich die sozioökonomischen Bedingungen in den 1970er Jahren grundlegend verändert hatten, geriet der Sozialstaat in eine Krise, die mit starker zeitlicher Verzögerung zu seinem Rückbau führte. Die wirklich entscheidenden Einschnitte lagen womöglich erst um die Jahrtausendwende. Beide Bände leisten eine Beitrag zur historischen Verortung dieses Umstrukturierungsprozesses, der besonders die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Einen breiten Raum nimmt zunächst die lange Phase der sozialstaatlichen "Entfaltung" ein, deren Beginn in der Bismarck-Ära lag. Danach wird aber auch die jüngere Entwicklung mit seiner ernsthaften "Gefährdung" des Sozialstaates ausführlich thematisiert. Ansatzweise geht es auch um die Zukunft des Sozialstaats, so etwa wenn Hockerts auf die Entfesselung des Finanzkapitalismus 2008 hinweist und daraus folgert, dass die Schutzfunktion des Staates in Zukunft wieder stärker gefragt sein könnte.
Anmerkung:
[1] Beatrix Bouvier: Die DDR - ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker, Bonn 2002.
Marcel Boldorf