Werner Schiffauer: Nach dem Islamismus: Eine Ethnographie der islamischen Gemeinschaft Milli Görüş. Eine Ethnographie (= edition suhrkamp; 2570), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2010, 394 S., ISBN 978-3-518-12570-0, EUR 15,00
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Der Ethnologe Werner Schiffauer hat als Resultat langjähriger intensiver Auseinandersetzung mit der Milli Görüş eine umfassende Darstellung der Entwicklung einer großen islamischen Organisation in Deutschland vorgelegt und damit ein wissenschaftliches Desiderat erfüllt. Der Forschungsstand zum Islam in Deutschland ist bislang vergleichsweise dünn und die Forschungslandschaft fragmentiert; viele Beiträge orientieren sich recht einseitig an dem von Schiffauer zu Recht kritisch diskutierten Paradigma der Integration bzw. Integrationsfähigkeit von Migranten - abzulesen anscheinend vor allem am Status muslimischer Frauen - oder an der Frage der Gefährdung durch islamistischen Terrorismus. Schiffauer hingegen versucht, die Milli Görüş aus sich heraus, vor dem Hintergrund der spezifischen Situation ihrer Mitglieder als Migranten oder Nachfahren von Migranten, zu verstehen und die innere Entwicklung der Gemeinschaft nachzuvollziehen, ohne dabei permanent den Grad ihrer Anpassung an Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft zu bewerten.
Schiffauer ist eine gut lesbare, anschauliche Darstellung gelungen, die dennoch nie ins Banale abgleitet. Anders als viele Studien zu islamistischen Bewegungen beschränkt sich sein Buch nicht auf eine Analyse ideologischer Standpunkte; ebensowenig handelt es sich aber um eine rein soziologische Untersuchung der Mitglieder der Milli Görüş. Der Autor stellt vielmehr einen großen Gesamtzusammenhang her, bettet die von ihm dargestellten Entwicklungen theoretisch ein, bleibt dabei aber immer seinen empirischen Befunden verhaftet und verliert über der theoretischen Einordnung nicht seinen spezifischen Gegenstand aus den Augen.
Der Autor legt zunächst in einer ausführlichen Einleitung seine zentrale These mitsamt ihrem theoretischen und begrifflichen Fundament dar. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das Konzept des Postislamismus, einer Geisteshaltung, die aus der Erschöpfung der islamistischen Ideologie resultiere und auf der Basis des Islams nach Lösungen für eine gerechte Gesellschaft suche. Solche Lösungen würden nicht mehr durch die Errichtung eines islamischen Staates avisiert; zivilgesellschaftliches Engagement trete in den Vordergrund. Es komme zur Aufweichung des früheren Gegensatzes zwischen Gut und Böse, Islam und Westen. An die Stelle revolutionärer, millenaristischer Ideen, die auf die Beseitigung des Bösen und die Errichtung einer utopischen Ordnung abzielten, trete die pragmatische Auseinandersetzung mit Sachproblemen.
Den Bedingungen, unter denen es zur Herausbildung solch postislamistischer Projekte kommen kann, untersucht Schiffauer nun mit Blick auf den deutschen Kontext am Beispiel der "zweiten Generation" der Milli Görüş. Im Kern steht dabei der Versuch, anhand der "kollektiven Biographie" dieser Generation zu belegen, dass die Übersetzerfunktion, die sie in den Gemeinden zwangsläufig übernahmen, zu einer Überwindung klassischer islamistischer Denkmuster geführt habe. Die zweite Generation sei schon in jungem Alter an wichtige Positionen in den Gemeinden gelangt, weil sie sprachlich und kulturell in der Lage gewesen sei, Kontakt zur deutschen Mehrheitsgesellschaft herzustellen. Je mehr diese Generation aber zum Mittler zwischen der ersten, islamistischen Generation von Gemeindemitgliedern und deutschen Institutionen geworden sei, je tiefer sie strukturell in Deutschland, im deutschen Bildungssystem und Erwerbsleben, verwurzelt gewesen sei, als desto weniger haltbar habe sich die Dichotomie von Wahr und Falsch, Islam und Westen erwiesen. Im Ergebnis sei zwischen diesen beiden Polen ein "dritter Raum" entstanden, der sich durch eine stringente religiöse Orientierung der Lebensführung bei gleichzeitiger Akzeptanz des dauerhaften Lebens in der deutschen Gesellschaft auszeichne.
Um diese These zu untermauern, zeichnet Schiffauer zunächst das religiöse Milieu der ersten Einwanderergeneration plastisch nach und geht dann sehr detailliert und durchaus auch kritisch auf die Entstehung und Entwicklung der Milli Görüş in der Türkei ein, wobei er fortlaufend Bezüge zur Situaton der Milli Görüş-Gemeinden in Deutschland herstellt. Auf diesen Kapiteln beruht seine nun folgende Rekonstruktion der "kollektiven Biographie" der postislamistischen Generation in der Milli Görüş, die den Stimmen der Protagonisten breiten Raum gibt. In der Folge setzt sich Schiffauer mit den Inhalten des postislamistischen Projekts auseinander und skizziert die Suche nach islamrechtlichen Normen für Muslime in der Diaspora. Ein weiteres Kapitel widmet sich der Auseinandersetzung der Postislamisten mit deutschen Institutionen und insbesondere ihrem Kampf um rechtliche Anerkennung. Dabei beleuchtet Schiffauer kritisch das Agieren deutscher Akteure, insbesondere des Verfassungsschutzes; zentral für seine Argumentation ist aber vor allem die Feststellung, dass aus diesen rechtlichen Auseinandersetzungen nicht nur ein enormer Kompetenzzuwachse für die beteiligten Mitglieder der Milli Görüş erwuchs, sondern auch eine Bejahung deutscher rechtsstaatlicher Grundsätze als Mittel zur Verwirklichung des eigenen, religiös fundierten Ideals der Gerechtigkeit. In einem letzten Kapitel situiert Schiffauer die Postislamisten innerhalb ihrer Gemeinden und zeichnet die Spannungen zwischen den überwiegend traditionellen Ortsgemeinden und der postislamistischen Generation nach.
In seinem Fazit kommt Schiffauer zu seiner Kernthese zurück, dass die Übersetzerfunktion, die die zweite Generation der Milli Görüş in ihren Gemeinden habe einnehmen müssen, ursächlich für die Entwicklung des postislamistischen Projekts gewesen sei. Hierin sieht er auch das Spezifische des Postislamismus in der Diaspora, der großes Potenzial in sich berge; und zwar deswegen, "weil sich Westen und Islam jahrhundertelang durch ihre Gegensätzlichkeit definiert haben. Der Wert des jeweils Eigenen wurde durch den Unwert des jeweils Anderen betont und herausgearbeitet. Der Postislamismus in Europa sucht eine Form, um diese Gegensätzlichkeit zu überwinden. Der Wert des Eigenen ergibt sich gerade im Licht des Anderen: Der Wert der Verfassung oder des Sozialstaats, weil er Perspektiven aufzeigt, wie der im Islam formulierte Gedanke der Gerechtigkeit in die Praxis umgesetzt werden kann. Der Wert des Islam, weil über ihn der Gedanke weltweiter Verteilungsgerechtigkeit wieder aufgegriffen und auf die Tagesordnung gesetzt werden kann [...]." (378) An diesem Punkt scheint der Autor etwas zu sehr zu verallgemeinern, denn der "im Islam formulierte Gedanke der Gerechtigkeit" entspringt eher dem Erbe sozialreformerischer und islamistischer Bewegungen, als dass man ihn pauschal für ein Charakteristikum des Islams - wenn man davon überhaupt reden kann - halten könnte. Diese kleine Unschärfe fällt aber gegenüber dem großen Erkenntnisgewinn und den anregenden, pointierten Thesen, die der Autor in überzeugender Weise aus seinem Material entwickelt, kaum ins Gewicht.
Das breit angelegte und dabei kenntnisreiche und fundierte Buch ist ein hochwillkommener Beitrag zu einem noch unterentwickelten Forschungsgebiet. Schiffauer lässt die von ihm untersuchten Akteure zu Wort kommen, bricht herkömmliche Kategorien wie "Islamismus", "Reformislam" und "traditioneller Islam" auf und entwickelt neue Perspektiven. Sein Buch ist damit eine höchst lohnenswerte Lektüre.
Johanna Pink